Fanatischer Physiker beflügelt klagewillige Lehrerin (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 04.07.2012, 02:39 (vor 4276 Tagen) @ H. Lamarr

Am 18. Juni 2012 schreibt die Badische Zeitung:

Karin Jacobsen, Mutter einer Schülerin am Schiller-Gymnasium, hat namens ihrer Tochter beim Landgericht Offenburg, 2. Zivilkammer, eine Klage unter anderem gegen Telekom Deutschland eingereicht "wegen Feststellung der Ersatzpflicht für materielle und immaterielle Zukunftsschäden aus möglichen Verletzungen von Sorgfaltspflichten". [...] In dem Rechtsstreit geht es laut Frau Jacobsen "um die Übernahme der Verantwortung für gesundheitliche Schäden, die durch die Dauerbestrahlung (jetzt sechs Jahre mit zunehmender Strahlungsintensität, ca. 35 Meter von den Unterrichtsräumen entfernt) durch die Mobilfunksendeanlagen direkt gegenüber vom Schiller-Gymnasium entstanden sein können oder noch werden". Sie hoffe natürlich, "dass dieser Fall nie eintritt". Sie habe trotzdem diesen Schritt unternommen, um auf die Praxis aufmerksam zu machen, "eine Art Warnung sozusagen".

Am 28. Juni, nach der ersten Verhandlung, legte die Zeitung mit weiteren Details zu diesem Streitfall nach.

Wie kommt die Lehrerin Jacobsen nur auf diese aberwitzige Idee, gegen einen Sendemasten vorzugehen, wo doch, wenn überhaupt, Handys einen Gedanken zur Vorsorge wert sind? Die Tochter der Lehrerin ist inzwischen volljährig, sie klagt nicht, sondern die besorgte Mutter. Warum aber nur sie, rd. 1000 Kinder gehen ins Schiller Gymnasium Offenburg, warum macht ausgerechnet Frau Jacobsen ein Fass auf?

Die genannten 35 Meter zwischen Sendemasten und Unterrichtsräumen sind der absolute Mindestabstand, er gilt für genau 2 Schulzimmer, die im Südflügel des Gymnasiums im 2. OG den Sendemasten zugewandt sind. Die Zimmer im Westflügel der Schule (Südseite) liegen alle mindestens 54 Meter von den Sendemasten entfernt. Vier der zwölf Sektorantennen sind der Schule zugewandt, der größte horizontale Sicherheitsabstand wird von der BNetzA auf 7,1 m beziffert.

Was aber war es, was die Lehrerin so wild gemacht hat, dass sie aller Voraussicht nach auf eigene Kosten vor Gericht zog? Rechtsschutzversicherungen verweigern in Sendemasten-Streitsachen nämlich häufig eine Deckungszusage, die Erfolgsaussichten sind den Versichereren zu gering.

Des Rätsels Lösung findet sich wieder in der Badischen Zeitung, diesmal in der Ausgabe vom 30. April 2010. Damals gastierte Dr. Volker Schorpp in Offenburg - auf Einladung von Karin Jacobsen. Der Physiker Schorpp ist überzeugter Elektrosensibler, er pilgert seit vielen Jahren durch Deutschland und verbreitet seine persönlichen Ansichten über das "Risiko Mobilfunk". Dabei greift er zuweilen fachlich weit daneben. Beispiel: Gemäß Schorpp sind auch metallische Reißverschlüsse an Hosen gefährlich, sie seien nämlich Antennen in der Nähe des Reproduktionsapparats. Der Physiker mag damit Laien in Angst und Schrecken und Knöpfeproduzenten in Entzücken versetzen, einen ausgewachsenen Professor der Nachrichtentechnik langweilte er damit nur.

Eine andere "Schrulle" des Physikers ist die vollständige Adoption der fixen Idee eines anderen Mobilfunkgegners, derzufolge Mobilfunk-Sendemasten Bäumen den Garaus machen. Unbeirrt von sattgrünen gesunden Bäumen in unmittelbarer Nachbarschaft von Sendemasten beharrt Schorpp auf seiner These - und findet sogar beseelte Anhänger wie die Ärztin Waldmann-Selsam. Der Trick der beiden ist leicht zu durchschauen: Woran auch immer erkrankte Bäume werden so fotografiert, dass ein Sendemast mit auf dem Foto zu sehen ist, nicht aber die kerngesunden Bäume dicht neben dem Kranken. Im Kontext entsteht so mit zig Fotos der vermeintlich überzeugende Nachweis, Mobilfunk mache Bäume krank. Man muss freilich schon ziemlich schlicht gestrickt sein, um diese Botschaft ernst nehmen zu können. Und, nach welchem Wirkmodell dies auch bei den lächerlich niedrigen Feldstärken in Entfernungen größer 100 Meter zu einem Sendemasten erfolgen soll, darüber schweigt der Physiker. Aus gutem Grund, denn es gibt keines. Keines, das jemals vor Wissenschaftlern ausgebreitet und für plausibel befunden wurde. Dafür gibt es umso mehr laienhafte Überlegungen, was es denn sein könnte ...

Ein fanatischer Anti-Mobilfunk-Referent beflügelt eine besorgte Lehrerin dazu, sich vor Gericht mit einer absurden Klage zum Narren zu machen, wobei der zweite oben verlinkte Artikel der Badischen Zeitung leider an entscheidender Stelle grammatikalisch eine solche Schieflage hat, dass noch nicht einmal zweifelsfrei klar ist, worum es in dem Streit genau geht. Interessant der Hinweis, es ginge primär um ein juristisches Interesse. Dies lässt den Schluss zu, dass Karin Jacobsen als "nützliche Idiotin" von Hintermännern der Anti-Mobilfunk-Szene vorgeschickt wurde, in der wilden Hoffnung, vielleicht ein Grundsatzurteil erwirken zu können. Dazu würde passen, dass die "Story" der Frau Jacobsen auf wundersame Weise den Weg in die Medien gefunden hat. Damit haben die Hintermänner ihr Minimalziel bereits völlig risikolos erreicht: Die Medien berichten wieder einmal geschäftsfördernd in mehreren Folgen über das Thema "Risiko Mobilfunk". Die Dumme wird am Ende die Lehrerin sein - meiner Meinung nach.

Das Urteil in dieser schrägen Rechtssache soll am 16. August verlesen werden.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Klage, Kompetenzdefizit, Badische-Zeitung, Wutbürger, Sicherheitsabstand, Sorgfaltspflicht, Sektorantenne, Nachbarschaft


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