Die Bundesregierung macht keinerlei Anstalten die Mobilfunk-Grenzwerte vorsorglich zu senken. Städte und Gemeinden greifen deshalb verstärkt zur Selbsthilfe und zimmern in Eigenregie Mobilfunk-Vorsorgemodelle, die die Bevölkerung vor negativen Folgen des Mobilfunks schützen und den sozialen Frieden wahren sollen. Derartige Modelle gibt es z. B. in Paris, Basel, Nürnberg, Augsburg, Duisburg, Düsseldorf, Attendorn, Gräfelfing und München. Wir haben uns das Großstadtmodell München einmal näher angesehen und sind bei den Recherchen auf Verblüffendes gestoßen: Von den 792 Mobilfunksender-Standorten, die im Oktober 2003 für München gemeldet waren, liegen gerade einmal 18 auf städtischen Objekten. Der “Marktanteil” der Stadt bei Senderstandorten erreicht damit bescheidene 2,3 %. Umso bemerkenswerter ist da die Mühe, mit der die Stadt das Münchener Mobilfunk-Vorsorgemodell 2003 aus der Taufe hob.
Anfang Juli 2003 ist in der bayerischen Landeshauptstadt das Münchener Mobilfunk-Vorsorgemodell (MMV) 2003 (Stadtratsbeschluss, PDF, 244 KByte) in Kraft getreten. Das neue Vorsorgemodell, das unter aktiver Mitwirkung der Netzbetreiber entstand, löst ein im November 2001 vom Stadtrat beschlossenes altes Vorsorgemodell ab. Das alte Vorsorgemodell sparte städtische Gebäude mit empfindlicher Nutzung (Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Seniorenheime) generell als Standorte für Mobilfunksendemasten aus und ließ alle übrigen städtischen Gebäude nur dann zu, wenn bei der Strahlenbelastung von Anwohnern die “Schweizer Vorsorgewerte” nicht überschritten wurden. Zur Erinnerung: Auch in der Schweiz gelten wie überall in Europa die gesetzliche Strahlungsgrenzwerte gemäß ICNIRP, nur in Krankenzimmern, Schul- und Schlafräumen gelten die auf 10 % der elektrischen Feldstärke reduzierten Schweizer Vorsorgewerte (offizielle Bezeichnung: Anlagewerte).
Warum das neue Vorsorgemodell notwendig wurde
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Kurzvorstellung des neuen Vorsorgemodells
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Bedingungslos sind die städtischen Objekte für Netzbetreiber jedoch nicht zu haben, denn bevor es zu einem Mietvertrag kommt, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein.
Bedingung 1: Die erste Bedingung ist Vorlage einer Immissionsprognose durch den Netzbetreiber. Immission ist die Strahlung, die bei Menschen ankommt, unabhängig davon, ob sich der Mensch innerhalb eines Gebäudes oder im Freien aufhält. Die Immissionsprognose muss gleich am Anfang einer möglichen Liaison vorgelegt werden und zeigen, dass der gewünschte Standort auf dem städtischen Objekt für die Nutzer des Objekts und die umliegende Bevölkerung die geringstmögliche Strahlungsbelastung mit sich bringt. Diese Bedingung ist immer dann sicher erfüllt, wenn das begehrte Objekt alle anderen umliegenden Gebäude weit überragt.
Da jedoch die relative Wertsetzung “geringstmögliche Strahlungsbelastung” theoretisch selbst dann noch zutrifft, wenn Hühner, die versehentlich ins Strahlungsfeld geraten, knusprig gebraten als Brathühner zu Boden fallen, wurde die relative Wertsetzung um eine absolute ergänzt: Was immer auch die Immissionsprognose an Strahlungsbelastung zeigt, bei mehr als 10 % des Grenzwerts gemäß 26. Bundesimmissionsschutzverordnung (BImSchV) wird der Umweltschutzausschuss der Stadt eingeschaltet, der dann darüber zu befinden hat, ob trotz hoher Werte eine Vermietung stattfinden soll. Auch das MMV 2003 kommt also nicht ganz vom Schweizer Vorsorgewert los, wenngleich dieser im Text des Stadtratbeschlusses wörtlich nicht mehr genannt wird. Ursache: Vorsorgewerte (wie der Schweizer oder Salzburger) sind den Betreibern ein Dorn im Auge. Aus ihrer Sicht bieten bereits die gesetzlich festgelegten Grenzwerte ausreichend Vorsorge und eine einmal widerspruchslos zugestandene Grenzwertsenkung würde unablässig Forderungen nach weiteren Senkungen nach sich ziehen. Deshalb tritt der Schweizer Vorsorgewert nun im MMV 2003 unter dem Pseudonym “stadtinterne Befassungsschwelle” auf.
Die Immissionsprognose beruht ausschließlich auf Berechnungen; sie wird vom RGU auf Plausibilität hin geprüft und – sollte der Sendemast tatsächlich errichtet werden – später stichprobenartig messtechnisch kontrolliert. Die Kosten der Messung tragen indirekt oder direkt die Betreiber. Bestätigt die Messung die Prognose nicht, kann die Stadt den (auf höchstens 10 Jahre abgeschlossenen) Mietvertrag vorzeitig kündigen.
Bedingung 2: Gewährleistet die Immissionsprognose die gewünschte Strahlungsminimierung greift die zweite Bedingung der Stadt: Der städtische Verwalter des begehrten Objekts (z. B. Schulreferat, Sozialreferat oder Kulturreferat) und dessen Nutzer müssen dem geplanten Sendemasten zustimmen. Ist das Objekt eine Schule, verlangt das Vorsorgemodell ausdrücklich auch die Zustimmung der Eltern. Ohne Zustimmung kein Mast. Aber mit dieser Zustimmung sind Masten jetzt prinzipiell auch auf Objekten mit empfindlicher Nutzung möglich (z. B. Kindergärten, Schulen), wenngleich das Eintreten eines solchen Falls nur schwer vorstellbar ist!
Was unterscheidet das neue vom alten Vorsorgemodell?
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Standen beim alten Vorsorgemodell städtische Objekte mit empfindlicher Nutzung keinesfalls als Standort zur Verfügung, gilt diese Einschränkung beim neuen Vorsorgemodell grundsätzlich nicht mehr: Jetzt sind alle städtischen Objekte freigegeben, wenngleich Objekte, die von Kindern und Jugendlichen genutzt werden, nur unter Vorbehalt (Zustimmung) als Senderstandort in Frage kommen.
Die Immissionsprognose, die schon in der Planungsphase eines Sendemasten über die zu erwartende Strahlungsbelastung Auskunft geben soll, war auch schon Bestandteil des alten Modells. Neu ist lediglich, dass diese Prognose vorzugsweise in Form eines auch für Laien anschaulichen 3D-Modells geschehen soll. Geblieben ist der Schweizer Vorsorgewert als Obergrenze der Strahlungsbelastung, jedoch ist diese Obergrenze nicht mehr unverrückbar (wie zuvor), sondern kann auf Beschluss des städtischen Umweltschutzausschusses in Einzelfällen nach oben hin durchbrochen werden. Eine derartige Ausnahme kann beispielsweise fürs Münchener Messegelände zutreffen.
Neu am MMV 2003 ist das geplante EMF-Monitoring, eine Messkampagne, die speziell den elektromagnetischen Feldern im städtischen Umfeld gilt. Wie dieses EMF-Monitoring vonstatten gehen soll steht derzeit noch nicht fest, das RGU will dazu im Laufe des Jahres 2004 dem Stadtrat ein Konzept vorlegen.
Kritische Anmerkungen zum neuen Vorsorgemodell
Das IZgMF sieht das Münchener Mobilfunk-Vorsorgemodell 2003 mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Vorteilhaft ist besonders die Chance zur Vermeidung von Härtefällen, wie sie während der Eiszeit zwischen Betreibern und Landeshauptstadt unvermeidbar waren. Auch die Einbeziehung unmittelbar Betroffener ist eine sinnvolle Regelung ebenso wie die, wenngleich derzeit noch zaghafte, Unterschreitung des gesetzlich zulässigen Strahlungsgrenzwerts und die vorausblickende Immissionsprognose. Wenn auch Privatpersonen in München ihre Objekte zu vergleichbaren Konditionen vermieten würden, wäre die Wirkung des MMV 2003 um ein vielfaches besser. Soviel zum lachenden Auge! Und das weinende Auge? Nun, das sieht folgende Schwachstellen:
Nutzerzustimmung ist unklar: Das MMV 2003 sieht vor, dass nicht nur der Eigentümer bzw. Verwalter eines städtischen Objekts zustimmen muss (im Falle einer Schule also das Schulreferat), sondern auch die Nutzer des Objekts. Die Nutzer eines Objekts sind jedoch in aller Regel viele Personen (Mitarbeiter einer städt. Behörde, Mieter von städt. Sozialwohnungen, Schul- und Kindergartenkinder, Bewohner städt. Seniorenheime) , die keineswegs alle dieselbe Einstellung für oder gegen einen Mobilfunkmasten auf dem Hausdach haben dürften. In welcher Form hier eine mehrheitliche Zustimmung gefunden werden soll (z. B. einfache Mehrheit oder 2/3-Mehrheit) ist im MMV 2003 nicht geregelt. Für langwierige Entscheidungsfindungen dürfte aber kaum Zeit bleiben, da die Mobilfunkbetreiber gemäß bayerischem Mobilfunkpakt II höchstens zwei Monate in Wartestellung bleiben müssen, bevor sie eigene Wege gehen können.
Nachbarn ohne Mitspracherecht: Verwalter und Nutzer eines städtischen Objekts können sich gegen die Vermietung des Objekts sperren. Unmittelbaren Nachbarn, die situationsabhängig durchaus stärker mit Strahlung belastet werden können, räumt das MMV 2003 jedoch keinerlei Mitspracherecht ein. Ebenso wenig ist vorgesehen, dass die Nachbarn die Immissionsprognose zu Gesicht bekommen, damit sie sich vorab ein Bild von der kommenden Strahlungsbelastung machen können. Trotz MMV 2003 ist es daher nicht unwahrscheinlich, dass Nachbarn erst beim Eintreffen des Schwerlastkrans, der den Sendemasten aufs Dach hieven soll, vom Geschäft zwischen der Stadt und einem Mobilfunkbetreiber etwas mitbekommen.
Hohe stadtinterne Bemessungsschwelle: Die am Schweizer Vorsorgewert angelehnte stadtinterne Befassungsschwelle lässt in Innenräumen eine elektrische Feldstärke von bis zu 6,1 V/m zu (entsprechend einer Leistungsflussdichte von 100 mW/m²), in Ausnahmefällen sogar mehr. Die niederländische TNO-Studie vom Oktober 2003 berichtet jedoch schon über alarmierende Gesundheitsstörungen wenn UMTS-Signale mit nur 1 V/m Feldstärke auf Menschen einwirken. Andere Studien setzen die Schwelle, ab der es zu Gesundheitsproblemen kommt, noch deutlich tiefer an. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die stadtinterne Bemessungsschwelle unangemessen hoch und kein zeitgemäßer Vorsorgewert mehr.
Geringstmöglich kann schon zu viel sein: Das MMV 2003 sichert den Nutzern eines begehrten Objekts und der umliegenden Bevölkerung die “geringstmögliche Strahlungsbelastung” zu. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass das städtische Objekt dann auch der bestmögliche Standort weit und breit ist. Stellen Sie sich nur die realistische Situation vor, dass neben dem städtischen Objekt ein besser geeignetes weil profilüberragendes Privatgebäude steht, der Eigentümer des Gebäudes dem Mobilfunkbetreiber aber die Zusammenarbeit verweigert hat. In so einem Fall ist das städtische Objekt zweitrangig und kann die geringstmögliche Strahlungsbelastung nur im Vergleich zu noch schlechter gelegenen drittrangigen Gebäuden bieten.
Nachmessung nicht Pflicht: Die Immissionsprognose eines Mobilfunkbetreibers wird zwar vom Münchener Referat für Gesundheit und Umwelt auf Plausibilität hin geprüft, das ändert jedoch nichts daran, dass die Prognose auf rechnerischen Näherungsverfahren beruht. Individuelle Besonderheiten eines Standorts bleiben dabei unberücksichtigt. So entzieht sich die tatsächliche Einwirkung von Reflexionen im Nahfeld einer Antenne allen Berechnungsversuchen, da viele Fremdfaktoren das Ergebnis mit bestimmen (z. B. Lage von Nachbargebäuden, Fassadenmaterialien, Witterung, beschichtete/unbeschichtete Fensterscheiben). In Ermangelung konkreter Werte werden deshalb die Fremdfaktoren in Form von Pauschalwerten berücksichtigt. Gewissheit über die tatsächliche Strahlungsbelastung kann jedoch erst eine Nachmessung an Ort und Stelle bringen. Gerade dies aber ist im MMV 2003 nicht zwingend vorgesehen, sondern nur Stichproben. Dabei hätten durchgängige Nachmessungen zu einer sicherlich interessanten Datenbasis darüber geführt, wie gut die Immissionsprognosen die spätere Realität vorweggenommen haben (27.12.03-ll).
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