von Stephan Schall, IZgMF
In der Schweiz verbreitet ein Anti-Mobilfunk-Verein die Sorge, wegen ungenauer Abnahmemessungen an neuen Mobilfunk-Basisstationen, könnte die Bevölkerung weit übers erlaubte Maß hinaus bestrahlt werden. Mit Duldung durch die Behörden! Die Bedenken sind für technische Laien glaubhaft begründet, doch treffen sie auch zu? Wir sind der Sache auf den Grund gegangen und können sagen: Nein, kein Eidgenosse muss sich fürchten. Zugleich ergab die Recherche: Die vermeintlich einfache EMF-Grenzwertregelung der Schweiz hält Überraschungen parat, die freilich erst bei genauem Hinsehen sichtbar werden (10.04.2015).
ZusammenfassungIn der Schweiz gelten an Orten mit empfindlicher Nutzung Anlagegrenzwerte, andernorts die höheren Immissionsgrenzwerte. Zur Beurteilung, ob an einem Ort die Anlagegrenzwerte eingehalten werden, ist der vor Ort abgelesene Messwert maßgebend. Die erweiterte Messunsicherheit der Messung darf ±45% nicht überschreiten, auf den Messwert aufgeschlagen wird diese Messunsicherheit indes nicht (eine Hochrechnung auf Volllast findet jedoch statt). Mobilfunkgegner sind empört. Zulässig ist diese Regelung, weil die Anlagegrenzwerte Vorsorgewerte sind, d. h. selbst aus ihrer möglichen Überschreitung um max. 45 % kein nachweisliches Gesundheitsrisiko resultiert. Anders bei Immissionsgrenzwerten. Da diese Gefährdungswerte sind, ist vor einer Beurteilung die erweiterte Messunsicherheit (max. 45 %) auf den abgelesenen Messwert aufzuschlagen. Der Summenwert darf den jeweiligen Immissionsgrenzwert nicht überschreiten. |
Der Beitrag geht zunächst der Frage nach, mit welcher Messunsicherheit bei der Messung von Funkfeldern in der Schweiz zu rechnen ist und welchen Wert die Messunsicherheit maximal haben darf. Der mathematisch/technische Aspekt der Messunsicherheit ist zahlenmäßig zweifelsfrei beschrieben, die praktische Anwendung dagegen lässt Interpretationsspielraum. Die zweite Hälfte des Beitrags zeigt deshalb, wie die Messunsicherheit zum Zankapfel wurde, und wie über deren richtige Berücksichtigung das höchste schweizerische Gericht nachvollziehbare Machtworte sprach, die allerdings noch nicht bei jedem Mobilfunkgegner des Landes angekommen sind.
Abnahmemessungen
an Mobilfunk-Basisstationen
Die Messunsicherheit setzt sich bei der Messung der Felder von Mobilfunk-Basisstationen aus zwei Beiträgen zusammen: der Unsicherheit der Messeinrichtung und der Unsicherheit der Probenahme (Anm.: Der Begriff Messunsicherheit kennzeichnet im Beitrag die Summe der Unsicherheiten). Definiert sind die beiden Beiträge der Messunsicherheit in einem Amtsbericht (PDF, 3 Seiten), den das Eidgenössische Institut für Metrologie (Metas) 2014 herausgegeben hat:
Unsicherheit der Messeinrichtung
Die Unsicherheit der Messeinrichtung liegt erfahrungsgemäß im Bereich von ±10 % bis ±16 %. Sie setzt sich zusammen aus den Unsicherheiten von Messantenne/Feldsonde, Verbindungskabel und Messgerät. Maßgebend für die Unsicherheit der Messeinrichtung ist nicht das Messgerät, sondern die Messantenne/Feldsonde. Die übrigen Unsicherheiten der Messeinrichtung sind alle kleiner, sie haben nur sehr geringen Einfluss auf den Gesamtwert. Genauere Messgeräte können daher die Unsicherheit der Messeinrichtung grundsätzlich nur unmaßgeblich reduzieren.
Unsicherheit der Probenahme
Die Unsicherheit der Probenahme wird von der chaotischen Verteilung elektromagnetischer Felder in Räumen bestimmt (räumlich/zeitliche Interferenzen durch Reflexionen) und durch leicht unterschiedliches Vorgehen von Messtechnikern während der Abtastung eines Raumes nach der Schwenkmethode. Beides bewirkt eine Streuung der Messergebnisse selbst dann, wenn mit identischen kalibrierten Messeinrichtungen gemessen wird. Die Unsicherheit der Probenahme wurde 2002 in einem Messvergleich mit 19 Messlaboren aus der Schweiz und Deutschland experimentell bestimmt. Sie beträgt maximal ±15 %. Dieser Wert wurde in späteren Messvergleichen für UMTS (2006), Rundfunkwellen (2007) und auch für LTE (2013) bestätigt. Gemäß den amtlichen Messempfehlungen (siehe “Literatur”) ist der Wert als fixer Beitrag von ±15 % bei der Berechnung der Messunsicherheit anzusetzen.
Berechnung der Messunsicherheit
Da die Unsicherheiten von Messeinrichtung und Probenahme einer Gauß-Normalverteilung unterliegen, dürfen die beiden Werte zur Berechnung der Messunsicherheit quadratisch addiert werden. Daraus resultiert eine Messunsicherheit von ±18 % bis ±22 %. Doch damit ist das Ziel noch nicht erreicht, denn diese Messunsicherheit leidet unter einem statistischen Makel: Sie beruht auf einem schmalen Vertrauensintervall mit einem Vertrauensgrad von nur 68,3 %. Im Messalltag heißt dies: Wer annimmt, der wahre Wert einer Feldimmission läge schlimmstenfalls ±22 % abseits vom gemessenen Wert, der liegt mit dieser Annahme in rd. 2/3 seiner Messungen richtig, zu rd. 1/3 jedoch falsch. Kritisch ist das nur in Richtung “Plus”, nämlich dann, wenn der wahre Wert über dem angezeigten Messwert liegt und unerkannt einen Grenzwert überschreitet, der vor gesundheitlichen Folgen schützen soll. Für Ämter und Behörden, die auf Rechtssicherheit achten müssen, ist ein Vertrauensgrad von 68,3 % zu wenig.
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Für die erweiterte Messunsicherheit gilt ein Vertrauensgrad von 95 %, wie bei statistischen Signifikanztests üblich. Das heißt: Der wahre Wert einer Immissionsmessung liegt mit 95 % Wahrscheinlichkeit im Bereich der erweiterten Messunsicherheit um den angezeigten Messwert herum. Wo genau der wahre Wert im konkreten Einzelfall ist, lässt sich grundsätzlich nicht angeben. Kleine Abweichungen zwischen angezeigtem Messwert und wahrem Wert sind häufiger, große seltener. Mit größter Wahrscheinlichkeit ist der angezeigte Messwert der wahre Wert.
Beispiel: Liest ein Messtechniker am Display seines Messgeräts z.B. den Messwert 1,0 V/m ab und beträgt die erweiterte Messunsicherheit ±41%, dann liegt der wahre Wert mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % im Bereich zwischen 0,59 V/m und 1,41 V/m. Was Mobilfunkgegner gerne übersehen: Die Messunsicherheit gilt auch in Abwärtsrichtung: Ein wahrer Wert unter 1 V/m ist nicht weniger wahrscheinlich als einer darüber.
Messempfehlung auf dem Prüfstand
Mit der maximal zulässigen erweiterten Messunsicherheit von ±45 % beschäftigte sich 2013 auch das oberste schweizerische Gericht (Bundesgericht). In einem vom Kantonsgericht Fribourg (II. Verwaltungsgerichtshof) überwiesenen Rechtsstreit rügten die Beschwerdeführer unter anderem, die amtlichen Messempfehlungen entsprächen nicht mehr dem Stand der Technik. Die Abnahmemessung an Orten mit empfindlicher Nutzung sei nicht möglich bzw. aufgrund der hohen Messunsicherheit von bis zu 45 % unzureichend, um zu gewährleisten, dass der Anlagegrenzwert nicht nur rechnerisch, sondern auch im realen Betrieb eingehalten werde.
Das Bundesgericht schloss sich dieser Sichtweise nicht an, befand jedoch in seinem Entscheid 1C_661/2012 vom 5. September 2013:
“Angesichts der technischen Entwicklung auf dem Sektor der Telekommunikation in den letzten 10 Jahren erscheint es dennoch angebracht, sich zu vergewissern, dass die Messempfehlungen noch dem heutigen Stand der Technik entsprechen. [...] Sollte es möglich sein, mit modernen Messeinrichtungen und Techniken die Messunsicherheit deutlich zu verringern, müsste deren Verwendung in der Baubewilligung vorgeschrieben werden.”
Das Metas kam der Anregung des Bundesgerichts umgehend nach, prüfte die Aktualität der Messempfehlung und veröffentlichte im Juni 2014 den oben erwähnten Amtsbericht mit dem nüchternen Fazit:
“Die Messempfehlung Mobilfunk-Basisstationen (GSM) (2002, Nr. VU-5800) und der Entwurf der Messempfehlung Mobilfunk-Basisstationen (UMTS – FDD) (2003) entsprechen dem gegenwärtigen Stand der Technik.”
Damit ist die Gültigkeit der Messempfehlungen aus Sicht der Behörden bestätigt. In der schweizerischen Zivilgesellschaft aber regt sich Widerstand. Nicht viel, aber laut.
Mobilfunkgegner betrachtet Messempfehlung als Hokuspokus
Ein pensionierter Elektriker, Präsident des Vereins Gigaherz (Schweizerische Interessengemeinschaft Elektrosmog-Betroffener), macht gegen die Messempfehlungen Front. Er droht:
“Zur Zeit werden hunderte von Basisstationen (Mobilfunkantennen) gebaut in deren Umgebung der berechnete Strahlungswert oft nur 1-2% unterhalb des Erlaubten liegt. [...] Mit Messeinrichtungen deren Unsicherheit bei ±45% liegt, möchten die Behörden die Einhaltung der Grenzwerte garantieren. Ob das nun Hokus-Pokus oder Schweizer Präzision ist, wird das Bundesgericht erneut zu entscheiden haben.”
Kürzlich legte der Gigaherz-Präsident nach. Im März 2015 schreibt er:
“Bezeichnend für alle Fälle ist, dass die NIS-Fachstelle des Kantons Bern [...] die Schwindeleien stets deckt. Etwa mit dem Hinweis, dass die Strahlung bei den Anwohnern immer noch 1 % unter dem Grenzwert liege. Es werde ja dann eine amtliche Abnahmemessung durchgeführt. Dass diese Messungen Unsicherheiten bis ±45 % aufweisen, sagt das BECO natürlich nicht.”
Für Laien ist wegen der ungenauen Formulierungen in beiden Fällen nicht ersichtlich, von welchem der beiden EMF-Grenzwerte (Immissionsgrenzwert oder Anlagegrenzwert) die Rede ist.
Die Bedenken des Mobilfunkgegners sind unter folgender Annahme nachvollziehbar: Wenn ein Grenzwert zu 99 % ausgeschöpft wird, die Messung dieser starken Immission jedoch mit einer Messunsicherheit von ±45 % behaftet ist, dann lässt sich eine Grenzwertüberschreitung um bis zu 44 % nicht ausschließen. Stellte sich diese Überlegung als zutreffend heraus und ist mit Grenzwert der Immissionsgrenzwert gemeint – die Eidgenossen müssten zurecht besorgt sein!
Das IZgMF wollte es genau wissen, ob in der Schweiz eine derart beträchtliche Grenzwertüberschreitung mit Segen der Behörden möglich ist. Wir fragten beim schweizerischen Bundesamt für Umwelt (Bafu) nach und bekamen kompetente Auskünfte. Die scheinbar harmlose Anfrage führte uns jedoch in überraschende Tiefen des alpenländischen Immissionsschutzes, sie brachte Details hervor, die bislang nicht nur in der Szene der schweizerischen Mobilfunkgegner unbekannt sein dürften.
Anlagegrenzwert: Messunsicherheit bleibt unberücksichtigt
Zunächst verwies uns das Amt darauf, die amtlichen Messempfehlungen definierten als grundsätzliche Anforderung an Messungen, die erweiterte Messunsicherheit solle den Wert von ±45 % nicht überschreiten. So stehe es in Kap. 4.8.4 der jeweiligen Messempfehlung. War der Neuheitenwert dieser ersten Auskunft noch gering, überraschte die nächste um so mehr:
“Bei der Beurteilung, ob der Anlagegrenzwert der Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV) eingehalten ist, ist jedoch nur der am Messgerät abgelesene Messwert massgebend, die Messunsicherheit wird weder zum Messwert hinzugezählt noch von diesem abgezogen (Kap. 4.2.2). Wenn die während der Messung aktuell vorhandene Sendeleistung tiefer ist als die maximal bewilligte Sendeleistung, findet eine Hochrechnung des Messresultats auf die maximal mögliche Sendeleistung statt. Für diese Hochrechnung ist aber, wie erwähnt, nur der abgelesene Messwert ohne Berücksichtigung der Messunsicherheit massgebend.”
Zur Beurteilung der Einhaltung des Anlagegrenzwerts in der Schweiz genügt also der am Messgerät abgelesene Messwert ohne jeden Aufschlag für die Messunsicherheit! Was wie ein Akt der Willkür wirkt, ist das Ergebnis rationaler Überlegungen, nach Auskunft des Bafu gut begründet in zwei Bundesgerichtsurteilen:
Entscheid 1A.118/2005 vom 12.12.2005 (Erwägung 5):
„Für die Bewilligung einer neuen Anlage ist […] in erster Linie die rechnerische Strahlungsprognose massgeblich. Der Abnahmemessung kommt lediglich eine Kontrollfunktion zu: Sie wird, im Sinne einer zusätzlichen Kontrolle, angeordnet, wenn die rechnerische Prognose an einem OMEN 80 % des Anlagegrenzwertes erreicht.“
Entscheid 1C_132/2007 vom 30.01.2007: In Erwägung 4.4.5 zitiert das Bundesgericht die juristische Literatur und folgt letztlich dieser Argumentationslinie:
„Auch in der Literatur wird überwiegend die Auffassung vertreten, dass die Messunsicherheit kein Gesundheitsrisiko darstellen dürfe, und die gesamte erweiterte Messunsicherheit daher zum Messergebnis dazugeschlagen werden müsse, soweit es um die Einhaltung der Immissionsgrenzwerte gehe […].
Anders zu beurteilen sei die Einhaltung des Anlagegrenzwertes: Dabei handle es sich nicht um Gefährdungswerte, sondern um vorsorgliche Emissionsbegrenzungen, welche die Strahlung auf das technisch und betrieblich mögliche und wirtschaftlich tragbare Mass reduzieren sollen. Hier sei vom wahrscheinlichsten und damit vom gemessenen Wert auszugehen [...].“
EMF-Messung
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Damit ist höchstrichterlich gesagt: Weil mit dem Anlagegrenzwert lediglich Vorsorge betrieben wird und eine statistisch mögliche begrenzte Überschreitung des Anlagegrenzwerts mit keiner nachweislichen Gefährdung von Anwohnern verbunden ist, genügt an Orten mit empfindlicher Nutzung der Vergleich des Anlagegrenzwerts mit dem Messwert am Display des Messgeräts. Der Aufschlag einer Messunsicherheit, egal welcher Wert, ist nicht erforderlich, mehr noch: Er ist nicht zulässig, denn damit würde über die Hintertür der Anlagegrenzwert verschärft. Ein Freibrief für die Verwendung untauglicher Messeinrichtungen ist diese Regelung jedoch nicht. Denn die Messeinrichtung muss mindestens gut genug sei, die erweiterte Messunsicherheit auf den zulässigen Maximalwert von ±45 % zu begrenzen.
Immissionsgrenzwert:
Messunsicherheit berücksichtigt
Anders sieht es beim Immissionsgrenzwert aus. Wie schon bei den zitierten Erwägungen des Entscheids 1C_132/2007 deutlich wurde, darf die Messunsicherheit nicht zu einem Gesundheitsrisiko führen. Dies ist ausgeschlossen, wenn die Messunsicherheit dem abgelesenen Messwert aufgeschlagen wird. Das Bafu ergänzt:
“Bei der messtechnischen Überprüfung, ob die Immissionsgrenzwerte der NISV eingehalten sind, ist die Messunsicherheit zum Messwert hinzuzuzählen. Genauere Angaben dazu finden Sie in der Publikation ‘Messung nichtionisierender elektromagnetischer Strahlung. 1. Teil: Frequenzbereich 100 kHz bis 300 GHz’ im Kapitel 4.12.” (Download)
Damit ist die Sorge vom Tisch, in der Schweiz könnte infolge ungenauer Messungen der Immissionsgrenzwert unerkannt überschritten werden. Zugleich erweist sich die oben getroffene Annahme, mit der die Bedenken des Gigaherz-Präsidenten nachvollziehbar gemacht werden sollten, als falsch. Denn wird die erweiterte Messunsicherheit, die ein Messlabor für seine Messungen ermittelt hat, auf den Messwert aufgeschlagen, kann mit großer Sicherheit eine Überschreitung der Immissionsgrenzwerte ausgeschlossen werden.
Literatur
Messempfehlung für GSM-Basisstationen in der Schweiz
Messempfehlung für UMTS-Basisstationen in der Schweiz
Elektrosmog-Grenzwerte der Schweiz im Überblick
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