Fall-Kontroll-Studie “Cefalo” zu den Ursachen von Hirntumoren bei Kindern und Jugendlichen
Als im Juli 2011 nach gut vier Jahren Laufzeit die große Kinderkrebsstudie “Cefalo” publiziert wurde, komprimierten die Medien das Resultat auf plakative Titelzeilen wie “Kein erhöhtes Gehirntumorrisiko für Kinder durch Handynutzung”. Die im Abstract der Studie genannten Daten legitimieren diese Interpretation. Bei genauerer Analyse zeigt die Arbeit indes ein auffälliges Resultat bei denjenigen Studienteilnehmern, für die statt subjektiver Erinnerung an den Beginn des ersten Handyvertrags objektive Vertragsdaten der Netzbetreiber verfügbar waren: Es stellte sich ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen der Dauer der Handynutzung ab dem ersten Vertragsabschluss und dem Auftreten von Hirntumoren heraus. Auf den ersten Blick ein alarmierender Befund. Warum es dennoch keinen Grund zur Panik gibt, erklären die Autoren der Studie in diesem Beitrag (17.09.2011).
Die starke Zunahme des Handygebrauchs bei Kindern und Jugendlichen in den letzten 15 Jahren hat in der Bevölkerung zu Bedenken wegen möglicher Gesundheitsrisiken der hochfrequenten elektromagnetischen Strahlung geführt. Ein mögliches Hirntumorrisiko im Zusammenhang mit der Handybenutzung wurde in dieser Altersgruppe bisher noch nicht untersucht.
Die "Cefalo"-Studie (case-control study on brain tumours in children and adolescents) ist eine internationale Fall-Kontroll-Studie, in welcher der Zusammenhang zwischen dem Mobiltelefongebrauch und dem Risiko, an einem Hirntumor zu erkranken, bei Kindern und Jugendlichen untersucht wurde. Außer der Schweiz nahmen Dänemark, Schweden und Norwegen an der Studie teil. Die Studienresultate wurden im Juli 2011 im Journal of the National Cancer Institute publiziert (Aydin et al., JNCI, 2011).
Methode
In die Studie aufgenommen wurden Kinder und Jugendliche, die zwischen 2004 und 2008 an einem Hirntumor erkrankten und zum Zeitpunkt der Diagnose 7 bis 19 Jahren alt waren. Für jeden Hirntumorpatienten wurden zwei gesunde Kontrollpersonen des entsprechenden Alters, Geschlechts und Wohnortes zufällig aus einem Bevölkerungsregister ausgewählt.
Die Studiendaten wurden in persönlichen Interviews mit den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen sowie ihren Eltern erhoben. Bei allen Teilnehmenden, die schon mindestens 20 Mal ein Mobiltelefon benutzt hatten, wurde der Handygebrauch bis zum Zeitpunkt der Diagnose detailliert erhoben.
Gefragt wurde nach der Häufigkeit und Dauer des Mobiltelefongebrauchs in verschiedenen Zeitperioden, nach der zum Telefonieren bevorzugten Kopfseite und nach der Benutzung von Kopfhörern. Zusätzlich wurden die Studienteilnehmenden um die Erlaubnis gebeten, ihre Verbindungsdaten von den Netzbetreibern anzufordern.
Neben dem Mobiltelefongebrauch wurden andere mögliche Risikofaktoren für Hirntumoren wie Röntgenstrahlung, Infektionskrankheiten oder Kopfverletzungen in der Kindheit erhoben.
Das Hirntumorrisiko wurde evaluiert, indem mittels konditionaler Regressionsanalyse die Dauer und Intensität der Handybenutzung der Patienten mit derjenigen der gesunden Kontrollpersonen verglichen wurde. Die Auswertungen wurden mit einer Reihe von Sensitivitätsanalysen komplettiert. Beispielsweise wurde die in einem Krebsregister erfasste Hirntumor-Erkrankungshäufigkeit bei schwedischen Kindern und Jugendlichen im Alter von 5 bis 19 Jahren zwischen 1990 und 2008 mit verschiedenen hypothetischen Risiken verglichen unter Berücksichtigung der Anzahl der Handybenutzer in jedem Jahr.
Ergebnisse
Insgesamt nahmen 352 Patienten und 646 Kontrollpersonen an der Studie teil. Die Teilnahmerate betrug bei Patienten 83 % und bei Kontrollpersonen 71 %. Ein regelmässiger Mobiltelefongebrauch (mindestens 1 Anruf pro Woche über mindestens sechs Monate) wurde von 55 % der Patienten und von 51 % der Kontrollpersonen angegeben. Die Auswertungen ergaben insgesamt keinen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen dem regelmässigen Gebrauch von Mobiltelefonen und dem Hirntumorrisiko (Odds ratio [OR] = 1,36, 95-%-Konfidenzintervall [KI]: 0,92–2,02). Für andere Expositionsmasse wie die Zeit seit der ersten Handybenutzung oder die kumulative Anzahl und Dauer der Anrufe war das Risiko ebenfalls nicht-signifikant erhöht. Es bestand keine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung. Beispielsweise war das Risiko für Teilnehmer, die seit mindestens 5 Jahren mit einem Handy telefonierten, praktisch gleich wie für Kurzzeitbenutzer (≤3,3 Jahre) (OR=1,26 [95-%-KI: 0,7–2,28] vs. OR=1,35 [95-%-KI: 0,89–2,04]). Ausserdem zeigte sich kein Zusammenhang zwischen der Mobiltelefonbenutzung und der Häufigkeit von Tumoren in den durch Handys am stärksten exponierten Hirnregionen (Temporal-und Frontallappen sowie Kleinhirn) (OR = 1,00, 95-%-KI: 0,58–1,72). Auf der zum Telefonieren bevorzugten Kopfseite traten Tumore nicht häufiger auf als auf der gegenüberliegenden Kopfseite. Die Daten der Netzbetreiber waren von einem Drittel der Teilnehmer mit Handyabonnement verfügbar. Aus diesen Daten ergab sich für Kinder und Jugendliche mit der längsten Zeitspanne seit dem ersten Mobiltelefonvertrag (>2,8 Jahre) ein um den Faktor 2,15 (95-%-KI: 1,07–4,29) erhöhtes Erkrankungsrisiko. Falls die Handybenutzung tatsächlich einen solchen Risikoanstieg verursachen würde, hätte die Häufigkeit von Hirntumoren in den letzten Jahren um rund 50 % ansteigen müssen. Schwedische Daten zeigen aber bei Kindern und Jugendlichen seit dem Jahr 2000 eher einen Rückgang als einen Anstieg der Hirntumorhäufigkeit (siehe Abbildung).
Diskussion und Schlussfolgerungen
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Auffälligstes Resultat der "Cefalo"-Studie
Das auffälligste Resultat der "Cefalo"-Studie ist der statistisch signifikante Zusammenhang zwischen der Dauer der seit dem ersten Mobiltelefonabonnement und dem Auftreten von Hirntumoren bei der kleinen Gruppe von Teilnehmern, für die objektive Daten der Netzbetreiber verfügbar waren. Objektive Daten gelten als weniger fehleranfällig als der selbstberichtete Handygebrauch. Frappant ist jedoch der offensichtliche Gegensatz zwischen diesem Resultat und der Entwicklung der Hirntumorerkrankungen in den letzten 10 Jahren gemäss Krebsregister. Das deutet stark darauf hin, dass die beobachtete Assoziation nicht oder zumindest nicht in diesem Ausmass besteht. Eine mögliche Erklärung für das Zustandekommen eines fehlerhaften Resultats ist, dass Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen grössere Anstrengungen unternommen haben könnten, weiter zurückliegende Daten zur Verfügung zu stellen. Das könnte auch alleine daher rühren, dass Patienten ihre Verträge bzw. Telefonnummern weniger häufig wechselten und so die von den Mobilfunkbetreibern verfügbaren Daten weiter in die Vergangenheit reichten. Damit würde der falsche Eindruck entstehen, dass Patienten tatsächlich früher mit der Mobiltelefonbenutzung begonnen haben als Kontrollpersonen. Eine andere Möglichkeit ist, dass Kinder, die bereits vor der Hirntumordiagnose Krankheitssymptome hatten, früher ein Mobiltelefonabonnement erhalten haben, um ihre Eltern im Notfall kontaktieren zu können.
Große Unsicherheiten bei langfristiger Datenerhebung
Insgesamt zeigt die "Cefalo"-Studie, dass die Erhebung des langfristigen Handygebrauchs mit grossen Unsicherheiten behaftet ist (Aydin et al., BioEM, 2011). Das liegt in erster Linie an den grossen zeitlichen Schwankungen der Mobiltelefonbenutzung, die es erschweren, das typische Benutzungsverhalten einer Person abzufragen. Bei Studienbeginn war das Ausmass dieser Fehleranfälligkeit noch nicht bekannt. Mittlerweile wurde diese Problematik aber auch in anderen Studien nachgewiesen (z.B. ”Interphone”). Eine Stärke der "Cefalo"-Studie ist der Einbezug objektiver Daten zur Mobiltelefonbenutzung, die in bisherigen Studien kaum zur Verfügung standen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die retrospektive Beschaffung von objektiven Betreiberdaten ebenfalls fehlerbehaftet ist und nicht als Goldstandard angesehen werden kann. Das liegt daran, dass die Daten bei den Mobilfunkbetreibern teilweise nicht lange genug gespeichert werden oder nicht mehr auffindbar sind. Weitere Einschränkungen ergeben sich daraus, dass der eigentliche Benutzer des Telefons nicht immer zweifelsfrei identifiziert werden kann oder dass sich die Studienteilnehmenden nicht mehr an frühere Telefonnummern erinnern.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Resultate der "Cefalo"-Studie nicht auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Mobiltelefongebrauch und dem Hirntumorrisiko von Kindern und Jugendlichen hindeuten. Allerdings war die Benutzungsdauer in dieser Studie relativ gering. Daher lassen sich keine Aussagen über längere oder intensivere Handybenutzung ableiten. Angesichts der weit verbreiteten Handybenutzung bei Jugendlichen und der Fehleranfälligkeit von Fall-Kontrollstudien in diesem Forschungsbereich sollten die Hirntumor-Erkrankungsraten bei Kindern und Jugendlichen in den nächsten Jahren anhand von Krebsregisterdaten sorgfältig kontrolliert werden.
Martin Röösli, Denis Aydin, Maria Feychting, Michael Grotzer, Claudia E. Kuehni, Joachim Schüz, Tore Tynes, Nicolas von der Weid
Der Beitrag erschien ursprünglich unter dem Titel “CEFALO: Internationale Fall-Kontrollstudie zu den Ursachen von Hirntumoren bei Kindern und Jugendlichen” im Jahresbericht 2010 der Schweizerischen Forschungsstiftung Mobilkommunikation (FSM). Wir haben den Beitrag mit freundlicher Genehmigung der FSM übernommen, den Titel geändert, einen Vorspann sowie Zwischenüberschriften hinzugefügt.
Weiterführende Informationen
Abstract (Zusammenfassung)der “Cefalo”-Studie (engl.)
Volltext der “Cefalo”-Studie (PDF, engl.)
Medienberichte zur Publikation der “Cefalo”-Studie
Was ist eine Fall-Kontroll-Studie?
Odds Ratio (OR) und Relatives Risiko (RR) - Statistik und Verschleierungsmöglichkeiten (PDF)
“Cefalo”-Studie im Schweizer Kinderkrebsregister
“Cefalo”-Studie bei Microwavenews: Once Again, the Results Are Confusing
Diskussionsstrang zur “Cefalo”-Studie im IZgMF-Forum
Verriss der “Cefalo”-Studie auf einer Website Schweizer Mobilfunkgegner
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