Symbiontischer Wahn: Psychisch Kranke in der Umweltmedizin (Forschung)
Auszug aus Dt Ärztebl 2000; 97: A-835–840 [Heft 13]
von Dr. med. Hanns-Rüdiger Röttgers
Viele Patienten klagen über Störungen, die sie schädlichen Umwelteinflüssen zuschreiben, ohne dass auch bei sorgfältiger Untersuchung eine Belastung durch Noxen oder Allergene nachweisbar wäre. Die Beschwerden und psychischen Befunde dieser Patienten entsprechen häufig denen hypochondrischer und konversionsneurotischer Erkrankungen; zuweilen handelt es sich um Psychosen. Diese Patienten mangels objektivierbarer Befunde zurückzuweisen, liefert sie paramedizinischen Hilfsangeboten aus oder führt zu einem Rückzug in Betroffenensubkulturen. Ebenso wenig wird eine unkritische Übernahme der subjektiven Überzeugungen durch den behandelnden Arzt der psychischen Erkrankung gerecht, denn sie verhindert eine angemessene psychiatrische Behandlung der unter oftmals hohem Leidensdruck stehenden Patienten.
[...]
Eine Phobie ist dann anzunehmen, wenn anhaltende Ängste und ein deutliches Vermeidungsverhalten vor einer umschriebenen Noxe bestehen: Dabei kann es sich zum Beispiel um erhöhte Ozonwerte bei Sommersmog handeln, wenn dem nicht ein hyperreagibles Bronchialsystem zugrunde liegt. Ein hypochondrisch Kranker beschäftigt sich
übermäßig und dauerhaft mit körperlichen Zeichen oder Empfindungen, die seines Erachtens Beweis für eine schwere Erkrankung sind. Hierher gehört aus dem umweltmedizinischen Themenkreis etwa eine Krebsphobie nach einer geringgradigen Formaldehyd-Exposition. Bekannter Anknüpfungspunkt waren in den 80er-Jahren die Holzregale eines schwedischen Selbstbaumöbelhauses.
Funktionelle Störungen treten vor allem im gastrointestinalen Bereich, als Herzbeschwerden und pseudoneurologische Symptome auf und führen bei Kranken auch dann zu der Überzeugung, körperlich krank zu sein, wenn keine organischen Erkrankungen oder pathophysiologischen Mechanismen vorliegen. Wenn diese Patienten umweltmedizinische Stellen aufsuchen, beschuldigen sie häufig einen bestimmten Schadstoff und haben bereits in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen oder Betroffenenliteratur dazu „Beweise" gesammelt.
Eine Wahnentwicklung im Sinne einer Paranoia kann dann vorliegen, wenn eine für die Umgebung nicht nachvollziehbare Überzeugung unbeirrbar aufrechterhalten wird. Dabei ist das Denken, anders als zum Beispiel bei schizophrenen Menschen, jenseits des häufig sehr eingegrenzten Gegenstands des Wahns nicht erkennbar gestört. Die Wahnentwicklung kann bei eingehender Untersuchung psychodynamisch ableitbar sein. Wenn Ehepartner oder andere enge Bezugspersonen den Wahn eines Ersterkrankten übernehmen, spricht man wie in der folgenden Kasuistik von induziertem oder symbiontischem Wahn („folie à deux").
Hierzu ein Beispiel: Ein 60 jähriger Pensionär begibt sich auf Drängen seiner Hausärzte in die Psychiatrische Klinik, nachdem mehrere umweltmedizinische Behandlungen in internistischen und psychosomatischen Abteilungen erfolglos blieben.
In der Untersuchung wird ein ausgeprägter symbiontischer Wahn sichtbar: Die Ehefrau ist davon überzeugt, aufgrund eines vor Jahren mehrmals angewandten Flohschutzmittels für die Hauskatze vermehrt an Haarausfall zu leiden und bringt diesen Vorgang mit großer Resonanz in die regionalen und überregionalen Medien. Die Bemühungen, untermauert durch verschiedene Grenzwertbefunde von „Umweltlabors", führen bis zu einer Anfrage im Europäischen Parlament. Bemerkenswert ist, dass in der Korrespondenz ganz unterschiedliche Substanzen beschuldigt werden, die mit der fraglichen Chemikalie nicht einmal verwandt sind. Der Ehemann sekundiert seiner Ehefrau, unterstützt sie ausdrücklich, organisiert die Korrespondenz mit anderen „Betroffenen" und leidet nunmehr ebenfalls an den dem Flohgift zugeschriebenen Symptomen. In der Klinik gelingt mit einer behutsamen Psychotherapie und einer niedrigdosierten neuroleptischen Behandlung mit 2 mg Haloperidol eine schrittweise Distanzierung. [...]
Kommentar: Dieser symbiontische Wahn lässt sich gut an einer Ärztin aus Bamberg beobachten. Sie besuchte aus persönlichem Interesse hunderte überzeugte Elektrosensible in ganz Deutschland und schrieb deren Kasuistiken auf. Am Ende räumte die Ärztin vor laufender Kamera (Spiegel-TV) ein, selbst "elektrosensibel" geworden zu sein, sie glaubt, auf das Digitalfernsehen DVB-T zu reagieren. Symptome: Schlaf- und Denkstörungen. Um schlafen zu können, legt sie sich auf den Boden ihrer Küche und wickelt sich dort mit mehreren metallbedampften Rettungsdecken ein. Deren Schirmwirkung, ist sie überzeugt, verschaffe ihr Linderung.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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