"Thank you for Calling": Kein Durchbruch nach 20 Jahren! (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Freitag, 29.12.2023, 00:10 (vor 137 Tagen) @ Alexander Lerchl

wäre seine "Doku" seriös recherchiert. Ist sie bekanntlich jedoch nicht. Eine mir jetzt erst aufgefallene vergleichsweise kleine Falschinformation steckt in Scheidstegers Schlachtruf aus dem Jahr 2014: "Ein Durchbruch nach 20 Jahren!" Von wegen 20 Jahre! Das Verfahren in erster Instanz startete am 15. November 2001 und man muss wahrhaftig nur die Grundrechenarten beherrschen, um auszurechnen, dass es 2014 nicht 20 Jahre auf dem Buckel hatte, sondern 13.

Gut beobachtet!

Gut beobachtet? Dachte auch ich. Stimmt aber nicht :-). Denn in seinem Hang zu Dramatik vertauschte Scheidsteger Ursache-Wirkung zu Wirkung-Ursache und machte erst im Folgesatz deutlich, dass sich seine 20 Jahre nicht auf den Prozessbeginn als Startdatum beziehen, sondern auf die "erste Warnung der Wissenschaft". Womit er mit 2014 – 20 Jahre das Jahr 1994 als Startdatum der ersten Warnung ausgemacht haben will.

Also habe ich mich auf die Socken gemacht, diese Behauptung zu prüfen. Und wie erwartet, stellte sie sich als falsch heraus.

Ausgangspunkt meiner Recherche war diese Story über Folgen des ersten EMF-Hirntumorprozesses in den USA. Es geht dort um Suzy Ellen Reynard, die an einem Gliom litt, gemeinsam mit ihrem Ehemann im April 1992 etliche Firmen der Mobilfunkindustrie verklagte und kurz darauf am 24. Mai 1992 mit 33 Jahren verstarb. Relevant ist folgende Textpassage:

[...] Dr. David Perlmutter, der behandelnde Neurologe, bestärkt den Witwer in dessen Verdacht, das Handy habe etwas mit dem Hirntumor seiner verstorbenen Frau zu tun, indem er belastende klinische Unterlagen vorlegt. Diese bestätigten, dass sich der Tumor hinter dem linken Ohr im unmittelbaren Strahlungsfeld der Handyantenne entwickelt hat. Perlmutter beruft sich auf Studien von Dr. Stephen Cleary, der am Medical College des Bundesstaates Virginia in Richmond arbeitet. Cleary hat zeigen können, dass im Reagenzglas kultivierte Krebszellen unter Einwirkung hochfrequenter Funkfelder zu wachsen anfangen. [...]

Auf der Suche nach Cleary landete ich bei Louis Slesin, der anlässlich des Ablebens von Cleary 2016 in seinem Nachruf schrieb (übersetzt ins Deutsche):

[...] 1990 veröffentlichte Cleary einen Artikel in Radiation Research, der die letzten Jahre seiner Forschungskarriere prägen sollte. Er zeigte, dass Mikrowellen das Wachstum menschlicher Hirntumorzellen (Gliome) modulieren. Die Ergebnisse waren provokant. Bei relativ geringen Intensitäten (5 W/Kg) vermehrten sich die Tumorzellen nach einer einzigen zweistündigen Exposition stärker und wuchsen auch fünf Tage später noch abnormal. [...]

Da Slesins Link fehlerhaft ist und nicht zum Ziel führt, suchte ich zur Bestätigung der Information im EMF-Portal nach Cleary und fand diese hier. Ob 1990 nun tatsächlich das Datum der "ersten Warnung der Wissenschaft" ist, sei dahingestellt, darum geht es hier und jetzt nicht, das Datum beweist lediglich, dass Scheidsteger mit seinen 20 Jahren auf jeden Fall falschliegt. Er hätte sagen müssen "Ein Durchbruch nach [mindestens] 24 Jahren!" Doch auch diese Variante ist Bullshit, denn den herbeigedichteten "Durchbruch" hat es so oder so nie gegeben, der entsprang allein der blühenden Phantasie Scheidstegers.

Aus welchem Finger sich der Märchenfilmer für Erwachsene die 20 Jahre gesaugt hat, weiß ich nicht, wahrscheinlich hat ihm sein angehimmelter Mentor George L. Carlo da etwas Falsches eingesagt, denn Carlo starte 1993 das berüchtigte WTR-Forschungsprogramm, mit dem er seinen Auftraggeber (CTIA) nach allen Regeln der Kunst aufs Kreuz legte. Und was Carlo sagt, ist für Scheidsteger ohne wenn & aber Gesetz. Dabei gibt es etliche Quellen, die ihn an der Integrität dieses Spindoctors hätten zweifeln lassen können. So schreibt Sourcewatch über den "Tausendsasa" einleitend (übersetzt ins Deutsche):

George L. Carlo war einer der produktivsten Wissenschaftskorrumpierer in der amerikanischen Wirtschaft, er arbeitete für jede Industrie, die ihn bezahlte. Zunächst baute er sein Geschäft auf, indem er über die E Bruce Harrison Company für Dow Chemicals arbeitete und Vorwürfe widerlegte, Dioxinverunreinigungen könnten Krebs und Missbildungen bei Kindern verursachten. Später wurde er von Ketchum PR angeheuert, um ein Forschungsprogramm für die Cellular Telephone Industry Association (CTIA) zu leiten. Es hatte sich herausgestellt, dass die gepulste Signalübertragung der ersten Form digitaler Mobiltelefone (bekannt als "D-AMPS" und "GSM") in Labortierstudien Brüche der DNA verursachte. Carlo baute einige große Forschungsunternehmen auf und zwischendurch lösten er und seine Partner Problemfälle für Tabak- und andere Chemieunternehmen. In seinem späteren Leben beschäftigte er sich mit verschiedenen anderen Gaunereien, u.a. mit der Förderung und dem Verkauf von "Bioschutzgeräten", die Handynutzer vor Handystrahlung schützen sollten.

Sein Hauptunternehmen war Health and Environmental Sciences, das er später zur Health & Environmental Sciences Group ausbaute, aber er hatte noch ein halbes Dutzend weiterer Unternehmen, die in der Regel den Namen Carlo trugen - wie George Carlo & Associates und The Carlo Group. Seine engsten Verbündeten waren Ian C. Munro von CanTox in Kanada sowie Jim Tozzi und Thorne Auchter, welche die Firmen Federal Focus, Multinational Business Services und das Institute for Regulatory Policy in Washington DC leiteten. [...]

Das liest sich jetzt so, als ob der gut George nicht mehr unter uns weilt. Dafür konnte ich jedoch im www keine Anhaltspunkte finden. George, der als Sohn sizilianischer Einwanderer 1953 in New York geboren wurde, hat sich mit 70 Jahren wahrscheinlich nur aus dem operativen Geschäft zurückgezogen und genießt seinen Ruhestand.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Irreführung, Carlo, Rückblick, Scheidsteger, Ty4C, Reynard


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