Kargo-Kult-Wissenschaft: Beispiel Ameisenforschung (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 23.02.2017, 13:07 (vor 2637 Tagen) @ H. Lamarr

Sie machen der Form nach scheinbar alles richtig, aber es funktionierte nicht. Kein einziges Flugzeug landete.

Ein typisches Beispiel für Kargo-Kult-Wissenschaft (KKW) ist für mich die Ameisenforschung von Marie Claire Cammaerts, zuletzt verbreitet von dem Anti-Mobilfunk-Verein Diagnose-Funk. Der Form nach passt bei Cammaerts scheinbar alles, sie arbeitet an einer Universität, publiziert in wissenschaftlichen Zeitschriften und sie sieht sogar so aus, wie man sich eine Wissenschaftlerin kurz vor dem Ruhestand vorstellt (die flotte Blondine unten ist nicht Cammaerts, sondern deren Ansagerin in einem 2 Minuten dauernden TV-Bericht von RTL-Belgien).

Doch bei genauerem Hinsehen zeigen sich deutliche Symptome von KKW. So ist die Dosimetrie von Cammaerts auf dem Niveau von "Jugend forscht", sie befeldet ihre Ameisen nicht gezielt und definiert, sondern legt lediglich ein handelsübliches Smartphone in die Behälter mit den Ameisen. Wegen ähnlich "unorthodoxer" Exposition von Fruchtfliegen ist der griechische Labortechniker Dimitros Panagopoulos (Uni Athen) als Experte der Klageseite in einem Hirntumorprozess von einem US-Gericht abgelehnt worden. Diagnose-Funk kümmert dies nicht, der Anti-Mobilfunk-Verein sekundiert der belgischen Wissenschaftlerin gewohnt dilettantisch und schreibt:

Die Ameisen reagierten schon auf das ausgeschaltete Handy mit Akku, sie wichen von ihrer normalen Laufstrecke leicht ab.

Betrachtet man das Video wird allerdings deutlich, den Ameisen blieb kaum eine andere Wahl, sie mussten ihre "normale Laufstrecke" notgedrungen verlassen, weil das Smartphone diese versperrte. Und selbst wenn: Ursache für das Verhalten der Ameisen könnte z.B. auch chemische Ausdünstungen des Smartphones sein, akustische Störeffekte der Elektronik oder niederfrequente Magnetfeld-Emissionen der Stromversorgung. Irritierend auch der wenig schonende Umgang von Cammaerts mit den Insekten, zu sehen ab 1:10 Minute. Gut vorstellbar, dass das eine oder andere Insekt dadurch verletzt wurde und von Cammaerts später irrtümlich als "verstört" und "paralysiert" wegen der Einwirkung des Smartphones eingestuft wurde.

Bezeichnend: Cammaerts ist die einzige Wissenschaftlerin weltweit, die sich mit der Auswirkung von Mobilfunk auf Ameisen beschäftigt, eine andere Arbeitsgruppe untersuchte, ob Ameisen einen Magnetsinn haben. Die Belgierin kann daher unbeobachtet vor sich hin wurschteln und von der Fachwelt unbemerkt eine KKW-Studie nach der anderen produzieren. Es fehlt der für ordentliche Wissenschaft essenzielle kontroverse wissenschaftliche Austausch. Im Gegenteil: Mit Olle Johansson hat sich Cammaerts für diese Ameisenstudie einen Mitstreiter gesichert, der als glühender Mobilfunkkritiker gilt und in Schweden deshalb mit dem Schmähpreis "Irreführer des Jahres" (Misleader of the Year) ausgezeichnet wurde. Diese Verdichtung von Voreingenommenheit spricht für KKW und nicht gegen KKW.

Ebenfalls ein Alarmzeichen für KKW ist die Vermarktung der Cammaerts-Entdeckungen durch einen privaten TV-Sender. Kargo-Kult-Wissenschaft adressiert immer Laien und so gut wie nie Wissenschaftler, denn diese können in aller Regel die Tricks der KKW durchschauen. Laien-Vereinigungen wie Diagnose-Funk fehlt dazu die fachliche Kompetenz, sie sind deshalb bevorzugtes Angriffsziel und dankbarer Abnehmer für KKW.

Hintergrund
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Wissenschaft, Magnetsinn, Kontroverse, Insekten, EMF:Data, Kargo-Kult, Kargo-Kult-Wissenschaft, Methodische Schwächen


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