TV-Tipp: Do. Der Handykrieg (Allgemein)

caro, Dienstag, 05.12.2006, 20:21 (vor 6314 Tagen) @ Gast

Der Handykrieg - ein Essay...

Warum wissen wir so wenig über die Gesundheitsrisiken des Mobilfunks?
Ist der kritische Journalismus ausgestorben oder kann er auf dem Gebiet der Handys und Sendemasten einfach nicht mehr stattfinden, weil die mächtige Industrie Medien, Politik und Wissenschaft manipuliert und kontrolliert? Starker Tobak? Nun, wer wie der Schreiber dieser Zeilen versucht hat Sendepartner für einen brisanten Handyfilm zu finden, macht so seine Erfahrungen.

Als vorläufig peinlicher Höhepunkt mag die folgende Geschichte gelten.
Der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR),Leipzig, hatte vor genau einem Jahr eine 45-minütige Fassung eines Filmes abgenommen, an der er sich als Koproduzent zusammen mit dem federführenden französischen Sender France 2 (FR2), sowie der Firma des Autors, beteiligt hatte.
Es handelt sich dabei um eine Film-Reportage, die wesentlich die Geschichte des Mannes
nachzeichnet, der einst im Auftrag der Mobilfunkindustrie die wissenschaftliche Forschung in den USA koordiniert hatte und seinem Auftraggeber zunehmend unerwünschte Ergebnisse präsentierte . Dr. George Carlos wichtigste Botschaft auf einen einfachen Nenner gebracht: "Achtung Krebsgefahr. Wir müssen die Verbraucher warnen und schützen!”
Das war bereits 1999. Heute, 7 Jahre später, ist das kleine Lieblingsspielzeug unserer Jugend, sehr zum Stolz einer Rekordwachstumsbranche, bei rund 2,5 Milliarden Nutzern weltweit angelangt . Im westlichen Europa gibt es seit dem ersten Quartal 2006 mehr Handys als Menschen (455 Mio. lt. World Cellular Information Service), dennoch bleiben die Warnungen der Wissenschaft weitestgehend ungehört, werden kritische Wissenschaftler wie Carlo diskreditiert, gemobbt und die Gelder gestoppt.

Doch Dr. Carlo hat einen neuen Job. Er koordiniert hinter den Kulissen den spektakulärsten Rechtsstreit in der Geschichte der Vereinigten Staaten : Sammelklagen von Gehirntumor-Patienten, die ihren todbringenden Krebs auf die häufige Nutzung des Mobiltelefons zurückführen und die Industrie auf viele Milliarden Dollar verklagen.

Der MDR hatte das heiße Eisen zwar zunächst angerührt und einen bescheidenen finanziellen Beitrag an der Koproduktion geleistet, doch nun versteckt der Sender eine auf 30 Minuten gekürzte Fassung im Vormittagsprogramm (Ausstrahlung: am Donnerstag, den 7.12.um 10:35 Uhr). Wie die Redaktion in Leipzig mit der Geschichte des Dr.George Carlo umgegangen ist, welche Elemente gestrichen, welche Kommentare geändert bzw. weggefallen sind, wurde mit dem Filmemacher weder koordiniert , noch abgestimmt. Der Informationsfluss an die Fachpresse fand nicht statt, das Werk wurde kurzfristig und ohne vorzeitigen Hinweis ins Programm genommen, so dass es in den einschlägigen Programmblättern auf dem Sendeplatz heißt: 10:35 Uhr, "Die Firmenretter”, Wiederholung vom Dienstag”…
Der Autor selbst wurde zwei Wochen vor Ausstrahlungstermin von einer Redaktions-Assistentin lapidar informiert, dies wohl auch nur, weil er mit einer gewissen Penetranz seit Wochen herauszufinden versuchte, ob der Sendepartner MDR den Beitrag , wie versprochen, noch in diesem Jahr zur Ausstrahlung bringt. Weder die verantwortliche Chefredakteurin Dr. Claudia Schreiner, noch der ausführende Redakteur Peter Dreckmann waren telefonisch für den Autor und Produzenten erreichbar. Auf die versprochene neue Sendefassung in Kopie wartet er bisher vergeblich.

Das Verhaltensmuster der ARD-Anstalt passt 1:1 in die heutige Mobilfunklandschaft. In der heilen Werbewelt der T-mobile, E-plus und Co. tummeln sich die Stars aus Sport und Kultur, werden die big events gesponsert und im Doppelpass mit den TV-Partnern als Dauerwerbesendung aus-ge-strahlt. Da ist kein Platz für Spielverderber, die durch kritische Berichterstattung über Krebsgefahren, Manipulation der Wissenschaften und drohende Prozesslawinen vom Fun ablenken.

Der Hauptfinanzier der Produktion, der mächtige französische Sender France 2, Paris, war mit einer taktischen Meisterleistung des damaligen Dokumentarfilmchefs Yves Jeanneau ins Rennen gegangen. Sein Zauberwort hiess ”class action”, die amerikanische Form der Sammelklage, die schon die Tabak-und Asbest-Industrie in den USA in die Knie gezwungen hatte und nun auch gegen die Mobilfunkgiganten zum Einsatz kommt. Diese an sich verbraucherfreundliche Klageform wird derzeit zur Einführung in Frankreichs Rechtssystem ernsthaft diskutiert. Monsieur Jeanneaus hatte seinen Aufhänger - über das trojanische Pferd "class action” konnte er die Programmdirektoren vom eigentlichen Thema ablenken. Yves Jeannneau, ein alter Hase mit 30 Jahren Dokumentarfilmerfahrung, ließ den Autor eindeutig wissen, dass ein offensichtlicher Frontalangriff gegen die Handy-Industrie nie eine Chance zur Ausstrahlung bekommen würde, solange der Grossteil der Werbeeinnahmen des Nationalen Senders aus den vollen Geldtöpfen der Mobilfunkindustrie stammt.

So lautete der Titel des Films in Frankreich denn auch :”Portables en accusation”, was frei übersetzt "Mobiltelefone in der Anklage” bedeutet. Er wurde am 18. Mai 2006 in voller Länge von 50 Minuten gesendet. Zuvor tobte allerdings hinter den Kulissen ein juristischer Kleinkrieg, die Industrie wollte mit allen Mitteln die Sendung verhindern. Noch am 17.Mai musste der Autor drei kleinen Änderungen zustimmen. Vor den ursprünglichen Titel kam der Zusatz "USA: "… - weil die juristische Auseinandersetzung ja in der Tat dort drüben stattfindet , eine Schrifttafel zur Beruhigung der Zuschauer musste eingeblendet werden, wonach die Welt-Gesundheits-Organisation alles im Griff hat und es keine nenneswerten Probleme zu melden gibt. Schliesslich musste über den Namen des Herstellers Motorola ein kurzer Pfeifton gelegt werden. Damit wähnte sich der Sender auf der sicheren Seite bei möglichen juristischen Angriffen der Industrie nach der Ausstrahlung.
So blieb die Originalfassung des Films in Frankreich quasi unberührt, inclusive eines echten Scoops. Er steht am Ende des Beitrages und findet in den heiligen Hallen des Capitol zu Washington statt und zeigt eine Zeremonie aus dem Sommer 2005. Aus der Hand einer Kongressabgeordneten erhält das dänische Ehepaar Bak den Preis für das erste sichere Handy der Welt. Ihre amerikanische Firma EMX hatte mit den Forschern der Katholischen Universität in Washington das Problem erkannnt und gelöst - mit Hilfe eines Mikrochips haben die Wissenschaftler die Zellreaktionen, die durch Handystrahlung ausgelöst wird und zu Gesundheitsschäden führen kann , ausgeschaltet. Es ist der Wirtschaftspreis des World Economic forum für die Lösung eines Problems, dass nach den Beteuerungen der Industrie nicht existiert.Nicht existieren darf: Der Milliardenschwere juristische Handykrieg wäre für die Mobilfunkindustrie verloren, würden sie ein Problem eingestehen . Ob der MDR die kritische Schlussfolgerung bringt, bleibt abzuwarten .

Klaus Scheidsteger


[Nachtrag 28.10.2012 Link zum Film Handykrieg.]

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