Urteil 3 K 299/24.MZ des VG Mainz: Zusammenfassung (I) (Allgemein)

KI, Sonntag, 25.05.2025, 13:23 (vor 10 Tagen) @ H. Lamarr

Am 12. März 2025 hätte das Verwaltungsgericht Mainz in der vom OVG Koblenz angeordneten Neuverhandlung u.a. darüber befinden sollen, dass die Grenzwerte der 26. BImSchV die Bevölkerung in Deutschland angesichts der Studienlage nicht wirksam vor den Risiken einer Mobilfunkbefeldung durch Funkmasten schützen. Derartige Erwartungen hegten die Anwältin der Kläger (Sibylle Killinger) und eine handvoll Mobilfunkgegner, die sich am 12. März in Mainz einfanden, um das "bahnbrechende" Ereignis (O-Ton Peter Hensinger: "Das gab es noch nie!") live mitzuverfolgen.


Urteil des VG Mainz: Zusammenfassung und juristische Bewertung

Hintergrund und Verfahren
Die Kläger, Eigentümer eines Wohnhauses in ca. 430 m Entfernung zu einem geplanten Mobilfunkmast, klagten gegen eine der Beigeladenen (Mobilfunkbetreiberin) durch die Bundesnetzagentur erteilte Standortbescheinigung nach der BEMFV. Die Kläger machten insbesondere gesundheitliche Gefährdungen geltend.

Gesundheitliche Hauptargumente der Kläger
Die Kläger – insbesondere eine Klägerin, die sich als "strahlungssensibel" beschreibt – argumentierten mit zahlreichen individuellen und allgemeinen gesundheitlichen Risiken durch hochfrequente elektromagnetische Felder (HF-EMF):

► Körperliche Beschwerden: Die Klägerin leide bei erhöhter Strahlung an Migräne, besonders nachts, da das Schlafzimmer auf der dem Funkmast zugewandten Seite liege.

► Vulnerabilität im Alltag: Aufgrund von Homeoffice-Tätigkeit hielten sie sich fast ständig im Haus auf (nur 20 Abwesenheitstage pro Jahr).

► Schutzlücken durch Recht und Technik: Individuelle Vorsorge (z. B. bauliche Abschirmung) sei unzureichend. Die Grenzwerte der 26. BImSchV seien untauglich, da sie nur auf thermischen Wirkungen basieren und athermische, biologische Effekte ausblendeten.

► Rechtliche Grundannahme: Die Kläger beriefen sich auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf körperliche Unversehrtheit) und Art. 8 EMRK (Unverletzlichkeit der Wohnung), da die Mobilfunkstrahlung planmäßig auch Innenräume durchdringe.

Vorgetragene Studien und Gutachten (Auswahl)
Der Rechtsbeistand der Kläger präsentierte eine umfangreiche Studienparade, mit der eine tumorfördernde oder anderweitig gesundheitsschädigende Wirkung elektromagnetischer Felder unterhalb der geltenden Grenzwerte untermauert werden sollte:

Tierstudien und toxikologische Studien
► „Mäusestudie“ (BfS): Zeigte angeblich eine tumorverstärkende Wirkung bei Mäusen unter Mobilfunkexposition. Die Kläger warfen der Bundesregierung vor, die Übertragbarkeit auf Menschen zu leugnen, obwohl die Studie genau zu diesem Zweck in Auftrag gegeben worden sei.

► NTP-Studie (USA): Zeigte bei männlichen Ratten Hinweise auf Tumore unter Mobilfunkstrahlung.

► Ramazzini-Studie (Italien): Beobachtete ähnliche Effekte wie NTP – bei geringerer Exposition.

► ATHEM-2-Studie (AUVA): Untersuchte athermische Effekte und kam zu DNA-Schäden bei Mobilfunkexposition.

Molekularbiologische Studien
► Schweizer Review von David Schuermann und Meike Mevissen (Universität Basel, 2021): Zeigte in Tier- und Zellmodellen Hinweise auf oxidativen Stress, der DNA-Schäden und langfristige Gesundheitseffekte nach sich ziehen könne.

Epidemiologische Studien
► Naila-Studie: Stellte einen Zusammenhang zwischen Tumorerkrankungen und Nähe zu Mobilfunksendeanlagen fest.

► Fallbeispiel „Schmelzer“ und Fallstudien von Anna Krout: Einzelberichte über Krankheitshäufungen im Umfeld von Mobilfunkanlagen.

► Interphone-Studie: Beobachtete bei Vielnutzern von Mobiltelefonen ein erhöhtes Risiko für Gliome.

Meta-Gutachten und politische Reviews
► „Health Impact of 5G“ (STOA-Studie, EU-Parlament, 2021): Kam zum Schluss, dass Mobilfunkstrahlung im Bereich 450–6.000 MHz als „wahrscheinlich krebserregend“ einzustufen sei.

► Bericht der Bundestagsabteilung für Technikfolgenabschätzung (2023): Konstatierte Unsicherheiten bezüglich nicht-thermischer Effekte und forderte vertiefte Forschung. Die Kläger lasen hierin einen „verschlüsselten Hilferuf“.

Mechanistische Hypothesen
► Kalziumkanal-Hypothese: Mobilfunkstrahlung öffne spannungsabhängige Calciumkanäle, was mit Zellstress und neurodegenerativen Erkrankungen (z. B. Alzheimer, ADHS) assoziiert werde.

Entscheidung des Verwaltungsgerichts

Rechtmäßigkeit der Standortbescheinigung
► Die Bescheinigung wurde nach den geltenden Vorgaben der BEMFV erteilt.

► Der berechnete Sicherheitsabstand (17,70 m horizontal, 5,21 m vertikal) liegt vollständig im kontrollierten Bereich.

► Die geplante Anlage arbeitet im üblichen Frequenzbereich von 768–2.150 MHz – keine adaptive 5G-Technologie.

Bewertung der gesundheitlichen Argumente
► Das Gericht erkennt keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die eine evidente Ungeeignetheit der geltenden Grenzwerte belegen würden.

► Die Grenzwerte berücksichtigen auch athermische Effekte (z. B. durch Sicherheitsfaktoren), selbst wenn diese nicht im Mittelpunkt stehen.

► Studien wie NTP, Ramazzini und Schuermann/Mevissen zeigen Hinweise, aber keine verallgemeinerungsfähige Evidenz.

► Die Einschätzung des BfS und die Berichte der Bundesregierung (z. B. Emissionsminderungsbericht) stützen die aktuelle Bewertung.

► Kein Gericht, auch nicht das BVerfG, habe bislang einen Zwang zur Anpassung der Grenzwerte festgestellt.

Kritik an Studien
► Die Mäusestudie sei in ihrer Übertragbarkeit begrenzt (Feldverteilung, kein klarer Wirkmechanismus).

► Der TA-Bericht sei kein wissenschaftliches Gutachten, sondern dokumentiere ein Meinungsspektrum.

► Die WHO-Klassifikation „möglicherweise krebserregend“ (Gruppe 2B) beziehe sich primär auf Handynutzung, nicht auf Basisstationen.

Ergebnis
Die Klage wurde vollständig abgewiesen. Die Standortbescheinigung bleibt rechtswirksam. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Juristische Bewertung

1. Zulässigkeit der Klage
Die Klage wurde als Drittanfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) gegen eine Standortbescheinigung nach der BEMFV geführt. Das Verwaltungsgericht hatte sie in einem früheren Verfahren (3 K 222/22.MZ) zunächst als unzulässig verworfen – wegen angeblich fehlender Widerspruchsbegründung. Diese Entscheidung wurde vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz aufgehoben. Das OVG stellte klar:

► Das erforderliche Vorverfahren (§ 68 VwGO) war ordnungsgemäß durchgeführt worden.

► Die Klagebefugnis bestand, da nicht offensichtlich ausgeschlossen war, dass Grundrechte (insb. Art. 2 Abs. 2 GG) betroffen sein könnten.

Juristische Bewertung: Die Entscheidung des OVG ist konsequent. Auch eine gewisse räumliche Distanz zur Sendeanlage (430 m) schließt nicht per se eine mögliche Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit aus. Damit war der Weg zur Sachentscheidung eröffnet.

2. Rechtsgrundlage der Standortbescheinigung
Die Standortbescheinigung basiert auf § 5 Abs. 1 und 2 BEMFV i.V.m. § 3 BEMFV und der 26. BImSchV. Die Bescheinigung ist eine gebundene Entscheidung: Sie muss erteilt werden, wenn der berechnete Sicherheitsabstand im kontrollierbaren Bereich liegt.

Juristische Bewertung: Die Gerichte wenden hier konsequent das geltende Fachrecht an. Die Standortbescheinigung ist keine Ermessensentscheidung, sondern an objektive technische Kriterien gebunden. Das reduziert den rechtlichen Spielraum für eine erfolgreiche Drittanfechtung erheblich.

3. Materielle Rechtmäßigkeit – Maßstab: Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (staatliche Schutzpflicht)
Die Kläger argumentieren mit einer angeblich unzureichenden Schutzwirkung der Grenzwerte. Das Gericht prüft deshalb:

► Ob die 26. BImSchV verfassungsgemäß ist.

► Ob sich aus neueren Studien eine „evidente Untragbarkeit“ der Grenzwerte ergibt.

Die Kammer folgt dabei strikt der ständigen Rechtsprechung des BVerfG:

► Der Verordnungsgeber hat bei komplexen wissenschaftlichen Gefährdungslagen einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum.

► Die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG gebietet keine Vorsorge gegen bloß hypothetische Gefahren.

► Eine Änderung wäre erst bei „gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen“ erforderlich, dass die bisherigen Grenzwerte unzureichend sind.

Juristische Bewertung: Die Argumentation ist verfassungsrechtlich sauber und folgt dem Maßstab der sog. „Risikovorsorge unter Unsicherheiten“. Die Kläger konnten keine Evidenz im verfassungsrechtlichen Sinn vorlegen, die den aktuellen Grenzwertrahmen erschüttert. Das Gericht war daher nicht befugt, eigene (niedrigere) Grenzwerte anzuwenden.

4. Rezeption wissenschaftlicher Studien
Die Kläger beriefen sich auf eine Vielzahl an Studien. Das Gericht prüfte deren Relevanz im Detail:

► Mäusestudie, NTP, Ramazzini: Keine gesicherten, übertragbaren Ergebnisse auf den Menschen.

► TA-Bericht des Bundestags: Enthält keine konkrete Handlungsempfehlung zur Grenzwertsenkung.

► Schweizer Review, REFLEX, AUVA: Keine hinreichende Evidenz, vielfach methodisch umstritten.

► WHO-Klassifikation: „Möglicherweise krebserregend“ ist keine neue Erkenntnis und bezieht sich auf Handy-Nutzung, nicht auf Sendeanlagen.

Juristische Bewertung: Die Kammer setzt sich umfassend und differenziert mit den Studien auseinander. Sie bleibt dabei im Rahmen ihrer Kontrollkompetenz. Die strenge Beweisanforderung (gesicherter Stand der Wissenschaft) ist hier rechtlich nachvollziehbar und durch die BVerfG-Rechtsprechung gedeckt.

5. Keine Anwendbarkeit von Bau- und Umweltrecht im Verfahren
Die Kläger rügten u. a. Verstöße gegen das BauGB, das Naturschutzgesetz und die Aarhus-Konvention. Das Gericht weist diese Argumente zurück:

► Die Standortbescheinigung nach der BEMFV ersetzt keine baurechtliche Genehmigung.

► Die Beklagte ist nicht zuständige Behörde für Fragen des Bau- und Umweltrechts.

► Eine Popularklage wird vom Unionsrecht nicht gefordert.

Juristische Bewertung: Auch dies ist rechtlich korrekt. Das Verfahren drehte sich ausschließlich um die Standortbescheinigung als immissionsschutzrechtliches Prüfungsinstrument. Die übrigen öffentlich-rechtlichen Aspekte sind separat zu behandeln.

Fazit
Das Urteil ist rechtlich fundiert und schließt sich konsequent der gefestigten verwaltungsgerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung an. Aus Sicht der Verwaltungsrechtsdogmatik sind besonders hervorzuheben:

► die klare Unterscheidung zwischen gerichtlicher Kontroll- und gesetzgeberischer Gestaltungsverantwortung,

► die Orientierung am verfassungsrechtlichen Maßstab gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis,

► die genaue Zuordnung der Prüfungsmaßstäbe nach BEMFV (technisch) versus BImSchG (materiell-immissionsschutzrechtlich),

► sowie die sorgfältige Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Erkenntnisstand.

Fortsetzung


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