Tote Kühe – Französische Landwirte greifen zur Selbsthilfe (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Samstag, 08.10.2022, 00:59 (vor 590 Tagen)

Bizarre EMF-Blödelgeschichten sind für die Medien in der Sauergurkenzeit stets Willkommen. Und wie immer bei solchen Geschichten, ein Betrachter kann sie wahlweise ernst nehmen oder als ulkige Blödelgeschichte amüsiert zur Kenntnis nehmen. Der Verein Diagnose-Funk nimmt EMF-Blödelgeschichten immer ernst. Diesmal ist es ein altbekannter Klassiker: Ein französischer Milchbauer behauptet, ein Mitte 2021 bei ihm errichteter 4G-Funkmast habe 42 seiner 200 Kühe das Leben gekostet.

Die Story, die Diagnose-Funk seit 28. September 2022 ohne jeden Anflug von Humor bierernst unter seinen Stopfgänsen verbreitet, ist eigentlich schon ein ziemlich alter Hut. Medienberichten zufolge errichteten die französischen Mobilfunknetzbetreiber im vergangenen Jahr einen gemeinsam genutzten 30 Meter hohen Funkmast auf dem Gebiet der 1500-Seelen-Gemeinde Mazeyrat d'Allier, etwa 80 km südwestlich von Lyon. Die französische Senderkarte Cartoradio führt den Standort unter der Nummer 2411333 (Maßstab reduzieren bis die bunten Symbole des Screenshots sichtbar werden). Ausgestattet ist dieser mit der klassischen Bestückung von drei UMTS900/LTE800-Funksystemen in 28,7 Meter Montagehöhe und den Hauptstrahlrichtungen 140°, 220° und 310°. Die sechs Funksysteme wurden zwischen dem 28. Juni 2021 und dem 8. Juli 2021 von den vier Netzbetreibern (Bouygues Telecom, Orange, SFR und Free) in ihre UMTS/LTE-Netze aufgenommen.

Am 6. September 2021 wurde 260 Meter südlich des Funkmasten auf dem Gelände eines dort erkennbaren Bauernhofs die Funkimmission aller dort messbaren Funksignale mit 0,79 V/m im Freien ermittelt (siehe Ziffer 1 in der Senderkarte). Bei diesem Hof handelt es sich um den von Frédéric Sagères. Der französische Landwirt behauptet gemäß Medienberichten, nach Inbetriebnahme des Funkmasten hätte sich der Gesundheitszustand und der Milchertrag seiner Kühe verschlechtert, bis Mai 2022 sollen 42 seiner 200 Kühe verendet sein. Sagères zog vors regionale Verwaltungsgericht, das zur allgemeinen Überraschung am 23. Mai 2022 eine zwei Monate dauernde Stilllegung des Funkmasten anordnete. Dagegen wiederum legten die vier Netzbetreiber Berufung ein mit der Begründung, 450 Gemeindemitglieder wären so von der Notfallversorgung abgeschnitten. Die Berufung hatte Erfolg. Der Staatsrat in Paris, oberste Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich, erklärte den Beschluss der Vorinstanz am 17. August 2022 für nichtig (Entscheidung Nr. 464622).

Am Ort des Geschehens in Frankreich: Ausschnitt aus der Senderkarte Cartoradio.
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Einen Tag später schritt Landwirt Sagères zur Sachbeschädigung und trennte, wie auch immer er dies angestellt haben mag, den Funkmast von seiner Stromversorgung. Was unmittelbar danach geschah schildert Diagnose-Funk unter Berufung auf Sagères und die Zeitung Le Figaro so:

„Eine Viertelstunde, nachdem wir den Strom abgeschaltet hatten, konnten Journalisten und Vertreter des Bauernverbands feststellen, dass die Kühe alle ihre Köpfe erhoben hatten und wieder zu trinken begannen. (…) Es waren achtzig Leute vor Ort, die den Unterschied feststellen konnten. Auch die Schwalben kamen zurück".

Geht's noch blöder? Nein, wahrscheinlich nicht.

Soweit der Sachstand zu dieser jüngsten Blödelgeschichte aus Frankreich, die von Diagnose-Funk mit Verspätung jetzt endlich auch in Deutschland verwurstet wird.

Die Story ist ein Remake älterer gleichartiger Blödelgeschichten, die seit etwa 25 Jahren von organisierten Mobilfunkgegnern kolportiert und kunstvoll ausgeschmückt solange erzählt wurden, bis sie niemand mehr hören konnte. Den Beginn machte 1995 die deutsche Bürgerwelle mit dem Altenweger-Hof im bayerischen Schnaitsee. Diese Geschichte gipfelte in der berühmt-berüchtigten bayerischen Rinderstudie und endete wie alle die danach kamen im Treibsand des unspektakulären Vergessens. Doch so wie Nessy nicht endgültig untergehen darf, um den Schottischen Highlands ein bisschen Tourismus zu erhalten, lagern Vereine wie Diagnose-Funk ein breites Sortiment an Blödelgeschichten auf Eis, um den Mist bei passender Gelegenheit aufzutauen und neu zu verbreiten.

Nach dem Altenweger-Hof erregte 2004 der Stengel-Hof im Donauries-Ries Aufsehen. Das IZgMF war damals Feuer & Flamme, doch auch diese Geschichte kam über den Status eines nur behaupteten Kausalzusammenhangs zwischen schwachen Funkwellen und toten Kühen nicht hinaus. Nach dem Stengel-Hof verlagerte sich das Geschehen in die Schweiz. Bauer Sturzenegger sollte dort ab 2006 für einige Jahre das zweite Remake der Altenweger-Geschichte mit großem Einsatz am Leben erhalten. Diagnose-Funk (Schweiz) unterstützte Sturzenegger dabei, das änderte aber nichts daran, auch diesem Remake war kein Erfolg beschieden.

Die folgende Linksammlung führt tiefer ins Unterholz der Blödelgeschichten über Rinder, die angeblich unter Mobilfunkeinwirkung allerlei Gebrechen zeigen bis hin zum Ableben.

► Fall Altenweger
► Fall Stengel
► Fall Sturzenegger
Schweiz hat Meldestelle für elektrosensible Kühe eingerichtet
Rindergesundheitsdienst (CH) erfasste Probleme mit Mobilfunk
Bayern: Neuauflage der Rinderstudie abgelehnt

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Frankreich, Rinder, Tourismus, Landwirt


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