Erst die Rinder, dann die Kinder: BfS bremste 2003 Löscher aus (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Samstag, 08.10.2022, 15:16 (vor 579 Tagen) @ H. Lamarr

Die folgende Linksammlung führt tiefer ins Unterholz der Blödelgeschichten über Rinder, die angeblich unter Mobilfunkeinwirkung allerlei Gebrechen zeigen bis hin zum Ableben.

Prof. Dr. med. vet. Wolfgang Löscher hielt die frühen Blödelgeschichten über elektrosensible Rinder 2003 noch nicht für abwegig. In einem Artikel kündigte er eine große epidemioloische Studie an, deren Planung bereits konkrete Formen angenommen hatte, die dann aber noch in der Planungsphase gemäß Löscher am Widerstand des BfS gescheitert ist:

[...] Zur weiteren Abklärung der Auswirkung von Mobilfunksendeanlagen auf Leistung und Gesundheit von Kühen plant eine Reihe von Arbeitsgruppen der Tierärztlichen Hochschule Hannover eine umfangreiche, prospektive Untersuchung bei Mobilfunkexponierten Milchviehbeständen und Kontrollbeständen in Niedersachsen. [...] Zunächst soll in einer ersten Projektphase eine räumliche Erfassung aller Mobilfunksendeanlagen in der Studienregion Weser-Ems vorgenommen werden. Desweiteren ist für die Studienregion ein Verzeichnis aller Milchviehbetriebe zu erstellen, die einer regelmäßigen Milchleistungskontrolle angeschlossen sind, um eine ordnungsgemäße Protokollierung von Milchleistungsdaten auch in der Vergangenheit zu gewährleisten. Die Informationen zu Sendeanlagen und Betrieben stellen die Basis der weiteren Projektphasen dar und erlauben, Betriebe repräsentativ auszuwählen. Außerdem können bereits in dieser Projektphase durch den Vergleich der protokollierten Milchleistung vor und nach Inbetriebnahme einer Mobilfunksendeanlage mögliche Veränderungen der Milchleistung erfasst werden. In einer zweiten Projektphase sollen 30 Betriebe mit höherer Exposition und 30 Betriebe mit geringer Exposition in hochfrequenten elektromagnetischen GSM-Feldern in die Studie aufgenommen und charakterisiert werden. Die dritte Projektphase sieht eine weitere Expositionsquantifizierung sowie eine Querschnittsuntersuchung an Einzeltieren vor.

In Projektphase 2 und 3 werden zahlreiche betriebsspezifische und tierindividuelle Expositions-, Leistungs-, Gesundheits- und Verhaltensparameter erfasst. Die Untersuchung soll nach den Prinzipien Guter Epidemiologischer Praxis (GEP) der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Epidemiologie durchgeführt werden und wird voraussichtlich drei Jahre in Anspruch nehmen. Dabei soll neben Gruppenvergleichen (hoch exponiert zu niedrig exponiert) auch jeder hoch exponierte Bestand mit Auffälligkeiten im Gegensatz zur bayerischen Rinderstudie individuell betrachtet werden. Ziel ist die Identifizierung von Faktoren, die möglicherweise erklären, warum es in Rinderbeständen mit vergleichbarer Mobilfunkexposition in einigen Fällen zu typischen Problemen kommt (Rückgang der Milchleistung, Fruchtbarkeitsstörungen, Missgeburten) und in anderen Fällen nicht. Diese Faktoren können expositionsspezifisch (z. B. Installation mehrerer interagierender Mobilfunksendeanlagen oder Interaktion zwischen Mobilfunksendeanlagen und TV-/Radiosendeanlagen) oder bestandsspezifisch sein. Da diese Faktoren bisher nicht bekannt sind, können sie nicht in einem Versuchsstall simuliert werden, so dass die Durchführung einer experimentellen Studie an Kühen in einem Versuchsstall mit definierter Mobilfunkexposition zur Zeit wenig sinnvoll erscheint. Falls die bisher berichteten Beobachtungen wissenschaftlich bestätigt werden können, hätte dies erhebliche Konsequenzen für die Beurteilung der gesundheitlichen Risiken durch hochfrequente elektromagnetische Felder von Mobilfunkanlagen für Tier und Mensch.

Leider ist die Finanzierung der geplanten Untersuchung in Niedersachsen vor allem aufgrund von Bedenken des Bundesamtes für Strahlenschutz bisher nicht gesichert, obwohl zunächst vom Bundesumweltministerium eine Finanzierung in Aussicht gestellt worden war. [...]

Wie die Meldestelle "Nunis" im November 2015 den Spuk beendete

Eigentlich schade, dass es damals nicht zu der geplanten Abklärung gekommen ist. Ich gehe davon aus, die Studie hätte die untersuchten Fälle bis hinauf zu einer grenzwertnahen Exposition klipp & klar als Blödelgeschichten indentifiziert. Dann wäre mMn ein für allemal Schluss gewesen mit Schauermärchen über elektrosensible Kühe. Lässt die Forschung wissenschaftliche Fragen unbeantwortet, füllen umgehend selbsternannte Experten, Scharlatane und Geschäftemacher das Vakuum mit Blödelgeschichten. So geschehen bis November 2015. Dann publizierte der Schweizer Wissenschaftler Michael Hässig seine ernüchternden Erfahrungen mit der Internet-Meldestelle "Nunis" für elektrosensible Nutztiere. Hässig brachte damit schlagartig die anekdotischen Fallschilderungen von Landwirten und organisierten Mobilfunkgegnern sowie deren pseudowissenschaftlichen Ausarbeitungen zum Einsturz.

Das Projekt "Nunis" wurde 2018 endgültig vom Netz genommen. Reste des einstigen Internetauftritts kann man sich heute nur noch im Webarchiv ansehen.

Auch für Hässig selbst hatte der Misserfolg mit "Nunis" Folgen, der Wissenschaftler wandte sich von dem Thema enttäuscht ab und publizierte nach 2015 dazu keine weiteren wissenschaftlichen Arbeiten mehr. "Nunis" beendete 2015 den 1995 begonnenen Spuk um angeblich elektrosensible Nutztiere, seither hat sich in Deutschland und der Schweiz kein weiterer Nachahmer des ersten Falls (Altenweger) gefunden. Und wüsste man in Frankreich von Nunis und von dem Untergang dieser Meldestelle, das altbekannte Theater hätte dort mMn keinen neuen Aufzug gehabt.

[Admin: Letzten Abschnitt ergänzt um Meldestelle Nunis am 9. Oktober 2022]

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Hässig, Löscher


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