Gurtpflicht in Deutschland (1975) (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 09.08.2020, 21:07 (vor 1328 Tagen) @ H. Lamarr

Selten reagierten die Westdeutschen so hysterisch wie bei der Einführung der Gurtpflicht. 1975 verweigerten sich Millionen Menschen dem Lebensretter Sicherheitsgurt. Männer fürchteten um ihre Freiheit, Frauen um ihren Busen - am Ende spaltete der bizarre Glaubenskrieg die ganze Republik, so wie dies derzeit die Einführung von 5G tut. Damals wie heute sind die Empörungsmuster die gleichen.

[image]Es waren groteske Szenen, die sich in der ersten Januarwoche 1976 an den Ampeln vieler westdeutscher Großstädte abspielten. Fernsehreporter hatten sich dort aufgebaut, und in den Rotphasen steckten sie ihre Mikrofonpuschel in die Autos. "Wie ist es so mit ihm?", fragten sie. Oder: "Warum noch ohne?" Je nachdem, ob sie es mit einem gehorsamen oder renitenten Staatsbürger zu tun hatten.

In genau diese zwei Gattungen Mensch zerfiel 1975 die Bundesrepublik, das ganze Jahr hindurch hatte ein tiefer ideologischer Graben das Land getrennt. Und alles wegen einer profanen Entscheidung der Politik: Bonn hatte zum 1. Januar 1976 die allgemeine Anschnallpflicht auf Pkw-Vordersitzen verfügt. Worüber heute niemand mehr nachdenkt, weil der Griff zum Sicherheitsgurt nach dem Hineinsetzen schon ein Automatismus geworden ist, sorgte Mitte der siebziger Jahre für einen Aufschrei.

Doch was genau hatten die Deutschen damals gegen das Anschnallen? Dass der Gurt helfen konnte, gab eine große Mehrheit sogar zu. 90 Prozent hielten ihn "für ein notwendiges, da sinnvolles aktives Rückhaltesystem", ergab eine damals in der Bundesrepublik in Auftrag gegebene Umfrage. Gegen eine Pflicht zum Einbau hatten zwei Drittel der Befragten nichts einzuwenden. Aber sich selbst anschnallen? Nein danke! Obwohl 1972 bereits 36 Prozent aller Autos Gurte installiert hatten, nutzten ihn im Stadtverkehr nur fünf Prozent der Autofahrer. Auf Autobahnen waren es zwar immerhin 15 Prozent, angesichts der höheren Geschwindigkeiten aber immer noch viel zu wenig. weiter ...

Die Gruppe Truck Stop landete 1977 passend zur grassierenden Gurthysterie einen Hit mit dem Ohrwurm von der Frau mit dem Gurt. Gemeint ist ein Plakat, das an belebten Bundesstraßen und Autobahnen den Oberkörper einer hübschen gut gebauten Frau mit Gurt zeigte, wobei der Gurt ihr einziges Bekleidungsstück war. Wenn ich mich recht entsinne, lautete der Text auf dem Plakat "Oben noch ohne?". Sinn und Zweck dieses und anderer Plakate war es, die Deutschen dazu zu bringen, den Gurt freiwillig anzulegen. Doch es half alles nichts, unbelehrbarer Gurtmuffel wegen musste 1984 das Bußgeld eingeführt werden, das wir heute noch haben.

Das Plakat von der Oben-ohne-Frau mit dem Gurt ist heute im www unauffindbar. Angeblich soll es Autofahrer so stark vom Verkehrsgeschehen abgelenkt haben, dass es seinerzeit zu Unfällen kam und es sicherheitshalber aus der Kampagne genommen werden musste.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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