Faktencheck: Bevölkerungsanteil, der durch Mobilfunk krank wird (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Montag, 18.02.2019, 22:27 (vor 1855 Tagen)

Seit 20 Jahren versucht die Splittergruppe der überzeugten Elektrosensiblen das Stigma der "Elektrochonder" los zu werden. Die dazu eingesetzten Mittel sind indes arg begrenzt und beruhen im Wesentlichen darauf, statistische Erhebungen wider besseren Wissens umzuinterpretieren. Auf diese Weise entstehen auf dem Papier massenweise "Elektrosensible" in der Absicht, die Öffentlichkeit zu dem Trugschluss zu verleiten: So viele können sich nicht irren. Der jüngste Versuch, die Bevölkerung auf diese Weise für dumm zu verkaufen fand jetzt in der Schweiz statt.

Martin Zahnd, selbstdiagnostizierter "Elektrosensibler" und Mediensprecher des sogenannten Dachverbands Elektrosmog in der Schweiz, behauptet auf der Website des Schweizer Vereins "Schutz vor Strahlung":

Bevölkerungsanteil, der durch Mobilfunk krank wird

Laut einer Umfrage vom BAFU von 2004 leiden 5% der Bevölkerung unter Elektrosensibilität, laut der Studie von 2011 ist diese Zahl gewachsen auf 8,6% der Bevölkerung. In der Schweiz sind über 700’000 Menschen betroffen ohne Dunkelziffer bzw. Menschen, die den Einfluss von Mobilfunk auf ihre Gesundheit noch nicht entdeckt hat.
Diese Zahlen wurden durch Martin Röösli, Strahlenexperte des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institutes, bestätigt.

Anlass war eine 57-Minütige moderierte Radiodiskussion mit den Teilnehmern Martin Zahnd und dem Wissenschaftler Martin Röösli.

Faktencheck

Als "Mediensprecher" eines Anti-Mobilfunk-Vereins ist von Zahnd zu erwarten, dass er mit der obigen Behauptung keinen Blödsinn auftischt. Anderseits tut jeder gut daran, Behauptungen von Mobilfunkgegnern grundsätzlich zu misstrauen. Denn regelmäßig hat sich bei Prüfungen gezeigt, sie versuchen durch Tatsachenverdrehungen oder Weglassungen einem ein X für ein U vor zu machen.

Der Faktencheck gilt in erster Linie Zahnds Behauptung, in der Schweiz sei der Anteil der Bevölkerung, der unter "Elektrosensibilität" leide, von 5 Prozent (2004) auf 8,6 Prozent (2011) gewachsen.

Diese Behauptung kann seriös nur dann aufgestellt werden, wenn die Umfrage von 2004 und die Studie von 2011 unter gleichen oder zumindest ähnlichen methodischen Bedingungen stattgefunden haben. Trifft dies nicht zu, ist auch Zahnds Behauptung falsch.

Vergleich der Arbeiten von 2004 und 2011
Für die Studie von 2011 gibt Zahnd einen Quellenlink, für die Bafu-Umfrage von 2004 hingegen nicht. Dies erschwert die Prüfung. So dauerte es geraume Zeit, ein PDF der Bafu-Umfrage zu finden. Erst mit beiden Quellen konnte der Vergleich der Bedingungen beginnen, unter denen die oben genannten Prozentwerte zustande kamen:

Bafu/Buwal-Umfrage 2004
Erscheinungsjahr: 2005
Ausführende Personen: Martin Röösli, Anke Huss, Nadja Schreier
Methode: Telefoninterviewanfrage an 2048 Personen (Antwortrate 55 Prozent)
Umfrageregion: Deutschschweiz und Frankoschweiz
Alter der Befragten: Personen über 14 Jahre
Befragungszeitraum: Mai bis Juli 2004

Studie 2011 (richtig: 2010)
Erscheinungsjahr: 2010
Ausführende Personen: Martin Röösli, Evelyn Mohler, Patrizia Frei
Methode: Fragebogenversand an 3763 zufällig ausgewählte Personen (Antwortrate 37 Prozent)
Studienregion: Basel
Alter der Befragten: Personen zwischen 30 und 60 Jahre
Befragungszeitraum: Mai 2008

Man muss kein Wissenschaftler sein, um zu erkennen, dass bereits die Abweichungen bei den rot markierten Bedingungen so gravierend sind, dass ein Vergleich der beiden Arbeiten unzulässig und irreführend ist. Der Anstieg von 5 Prozent auf 8,6 Prozent lässt sich z.B. damit plausibel erklären, dass in der jüngeren Arbeit Personen unter 30 und über 60 Jahren ausgeschlossen sind. Dadurch aber gewinnen die 35- bis 44-Jährigen, die gemäß der älteren Arbeit die mit Abstand stärkste Altergruppe selbstdiagnostizierter "Elektrosensibler" stellt (26,3 Prozent), deutlich stärker an Gewicht.

Statt 5 Prozent müsste es 2,7 Prozent heissen
Wer sich die Bafu/Buwal-Umfrage von 2004 etwas näher ansieht, wird schnell feststellen, die Zahl 5 Prozent ist geschönt, eigentlich müsste sie 2,7 Prozent lauten. Denn die restlichen 2,3 Prozent glaubten zum Zeitpunkt der Befragung nicht, elektrosensibel zu sein – sie glaubten lediglich, früher einmal elektrosensibel gewesen zu sein. Meiner Einschätzung nach hat Martin Zahnd weder Umfrage noch Studie näher angesehen, denn beide Papiere sind allein in seiner verzerrten Darstellung ein Beleg zugunsten von "echter Elektrosensibilität", tatsächlich sind sie ein klarer Beleg dagegen!

Versuch der Irreführung gescheitert
Der Versuch Zahnds den Eindruck zu erwecken, "Elektrosensibilität" habe mit wachsender Verbreitung des Mobilfunks von 2004 bis 2011 (Aufbau des UMTS-Netzes) zugenommen, darf also getrost als gescheitert betrachtet werden. Auch seine Hochrechnung auf 700'000 Betroffene (ohne Dunkelziffer) ist blanker Unsinn, denn selbstdiagnostizierte "Elektrosensible" vermuten lediglich, dass ihnen elektromagnetische Felder zusetzen, wissen tun sie es nicht. Schätzungsweise 98 Prozent dieser Leute belassen es bei der Vermutung und unternehmen nichts weiter. Nur die restlichen zwei Prozent (140 Personen) unternehmen mehr, sind in ein paar Selbsthilfegruppen organisiert, outen sich gelegentlich öffentlich als "Elektrosensible" und eine handvoll (maximal zehn) posten im Forum von gigaherz.ch, der nach eigenen Angaben "größten Betroffenenorganisation" für "Elektrosensible" in der Schweiz.

Notbesetzung der Mobilfunkgegner-Position durch Radio SRF1
Was Zahnd da für ein Lügengebäude zusammenbastelt, nur um der Öffentlichkeit eine riesenhafte Anzahl "Elektrosensibler" vorzutäuschen, ist eines Mediensprechers unwürdig, zu einem Winkeladvokaten hingegen passt es gut. Zahnd hat kommerzielle Interessen, er versucht mit seiner angeblichen "Elektrosensibilität" Geld zu machen, indem er sich ganz ungezwungen als Elektrosmog-Berater und -Coach empfiehlt. Dass Radio SRF1 auf einen Laien wie Zahnd als Gegenpart zu dem Wissenschaftler Röösli zurückgreift, ist unprofessionell und irreführend. Doch es ist auch entlarvend, denn den Medien stehen keine besseren Alternativen aufseiten der Mobilfunkgegner zur Verfügung. Ein anderes Beispiel für steiles Kompetenzgefälle in Pro & Kontra-Berichten sowie die daraus resultierende Irreführung durch Medien gibt es hier. Es handelt sich hierbei nicht um Einzelfälle, sondern um ein strukturelles Problem der Medien, sobald diese sich an der Mobilfunkdebatte mit Pro & Kontra versuchen. Aus meiner Sicht hätte Röösli sich weigern müssen, gegen Zahnd anzutreten, um den Mann nicht unabsichtlich und unverdient aufzuwerten.

Spielball "Elektrosensible"
Die Crux überzeugter Elektrosensibler ist, sie sind in der Bevölkerung nur eine winzige Minderheit und weltweit konnte bislang kein einziger "echter Elektrosensibler" gefunden werden, dem es gelang, seine Behauptungen unter strenger wissenschaftlicher Aufsicht unter Beweis zu stellen. Seit 20 Jahren versuchen Interessenvertreter der "Elektrosensiblen" mit meist fragwürdigen Mitteln dies zu vertuschen. Skrupellose Geschäftemacher spannen überzeugte Elektrosensible für ihre Zwecke ein, z.B. um Ängste gegenüber Elektrosmog zu schüren und so unnötige Beratungen, Messungen, Schirmungen und Elektrosmog-Schutzprodukte zu verkaufen. Die Wissenschaft steuert dagegen, sie stuft "Elektrosensibilität" zunehmend als psychische Erkrankung der Betroffenen ein. Pseudowissenschaftler stemmen sich gegen diese Erkenntnis.

Hintergrund
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Die wichtigsten Fachbegriffe biologischer Mobilfunkstudien

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
EHS, Medien, Minderheit, Umfrage, Irreführung, Selbstdarsteller, Kommerz, Röösli, Bafu, Faktencheck, Kompetenzgefälle, Huss, Zahnd, Nachprüfbarkeit


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