Dr. Scheingraber: Ein Zahnarzt auf Elektrosmog-Abwegen (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 24.03.2013, 19:57 (vor 4215 Tagen)

Seitdem der emeritierte Literaturprofessor Karl Richter mit seiner sogenannten Kompetenzinitiative der Anti-Mobilfunk-Bewegung einiger Baubiologen und Umweltärzte beigetreten ist, darf der Verein in Klingenthal (Vogesen) ein Château der Goethe-Stiftung Basel nutzen. Erstmals war dies 2009 der Fall. Und dieses Jahr soll es mit Szenegrößen wie dem Landwirt Sturzenegger wieder passieren. Wie irrsinnig groß das Interesse an diesen Veranstaltungen ist demonstriert ein für Literaten böser Tippfehler, der seit Jahren unbehelligt bis heute auf der Website des Professors steht:

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Mit von der Partie der angeblich etwa 50 unentwegten Anti-Mobilfunk-Aktivisten im Klingenthal des Jahre 2009 war unser alter Bekannter Dr. Claus Scheingraber, der Zahnarzt der Elektrosmogszene. Leider zieht er der maroden Szene keinen ihrer zahllosen vereiterten Zähne, sondern er eitert fleißig mit, um die Bevölkerung über mögliche biologische Nebenwirkungen des Mobilfunks in Unsicherheit zu wiegen. Denn die so Verunsicherten möchte sein Arbeitskreis Elektro-Biologie (AEB), genauer gesagt, die mit dem AEB verbandelten Helfer, nur zu gerne in Sicherheit bringen: gegen Honorar versteht sich. Der Haken an der Sache ist: Die E-Smog-Risiken werden nur dramatisch beschworen wie böse Omen, geschützt werden muss niemand davor. Doch unbeirrt aller Kritik hat Dr. dent. Scheingraber 2009 in Klingenthal einen Vortrag gehalten, dessen Manuskript (PPP, 32 Seiten) für Skeptiker ein geistiges Hallensportfest ist. Ich picke anschließend aus Zeitmangel nur mal zwei Fehler heraus, drin sind mit Sicherheit noch viel mehr.

Energiesparlampen strahlen wie zehn Funktelefone
Unter dem Titel "Hochfrequente Belastungen aus dem Stromnetz" präsentiert der Zahnarzt auf Seite 9 seiner Präsentation einen Messschrieb, der in der gezeigten Form nicht stimmen kann. Denn "Marker 1" steht dort auf dem Maximalwert bei 16,82 kHz, die Handeintragungen weisen gänzlich andere Werte aus, ein Zusammenhang mit Messwert und Handeintrag ist nicht ersichtlich. Auf Seite 10, dort zitiert Scheingraber aus dem weltbekannten Elektrosmog-Fachblatt BILD, ist dies anders, dort passen die Messwerte wenigstens frequenzmässig zu den Handeintragungen. Ob die Umrechnungen von dBµA/m (magnetische Feldststärke) in die uns vertraute Leistungsflussdiche jedoch korrekt sind, das bezweifle ich, denn wenn Scheingraber nicht auch die elektrische Feldstärke gemessen, sondern die Leistungsflussdichte einfach mit der Fernfeldformel aus der magnetischen Feldstärke ausgerechnet hat, dann liegt er daneben. Ebenso zweifelhaft ist mMn der Vergleich der Leistungsflussdichte zwischen einer Energiesparlampe (46 kHz) und einem DECT-Telefon (1,8 GHz). Laut Scheingraber hat die ESL die 25,8-fache Leistungsflussdichte des DECT-Telefons. Was er nicht sagt: ESL bedeutet Niederfrequenz und dort gelten für die biologische Wirkung völlig andere Belastungsgrenzen und Wirkmechanismen als bei der Hochfrequenz des DECT-Telefons. Der Doktor vergleicht hier Äpfel mit Birnen, die Zwanglosigkeit mit der er dies tut, überrascht wegen ihrer Inkompetenz.

Grobe Irreführung mit unpassender Formel
Um weniger technisches Kauderwelsch geht es auf Seite 17 der Scheingraber-Präsentation:

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Wieder ganz zwanglos verblüfft der Zahnarzt dort mit der Botschaft:

Dosis = Intensität x Zeit

Dies wäre nun nicht so falsch, hätte Scheingraber nicht fröhlich drüber geschrieben:

Biobelastung durch HF-Felder

Mit dieser Botschaft legte unser Zahnarzt 2009 in Klingenthal sozusagen das pseudowissenschaftliche Fundament der Sendemastengegnerei. Denn weil, im Gegensatz zu Handys, Mobilfunk-Sendemasten ihre "Opfer" nur mickrig bestrahlen, so mickrig, dass kein Mensch auf der Welt etwas davon bemerkt, mussten sich Sendemastengegner etwas einfallen lassen, um dennoch Ängste schüren zu können. Scheingrabers Universalformel löste dieses Problem. Dosis = Intensität x Zeit bedeutet für Eva und Alfred: Mag die Intensität auch schwach sein, die Zeit wird's richten und dann krepieren wir alle an Strahlenkrebs - oder so ähnlich. Erst die Kinder, dann die Rinder.

Von Scheingrabers erlösender Entdeckung der Dosis-Wirkungs-Beziehung anscheinend beseelt, hat 2011 der Physiker Stefan Spaarmann nachgelegt: "Ob es sinnvoll ist, bei Funkwellen zu bleiben, weiß auch niemand. Sie werden auch bei geringsten Intensitäten, wenn sie permanent anliegen, im Körper gespeichert ...". Dummerweise hat derselbe Physiker auch Telefonate mit Gravitationswellen für möglich gehalten. Derjenige, der den genialen Blödsinn der g-Wellen-Telefonie 2001 einer Schar Gutgläubiger mit Medien-TamTam präsentierte, wird heute von der Polizei gesucht - wegen Betrug.

Die Formel, die Scheingraber nennt, stimmt zwar, aber sie stimmt nicht wie er behauptet für HF-Felder. Denn unter der Einwirkung eines HF-Feldes reichert sich eben nicht irgendein Schadstoff langsam aber sicher im Körper an. Schlimmstenfalls erwärmt sich ein Körper unter Feldeinfluss um 1 °C: Fällt das Feld weg hört diese Einwirkung schlagartig auf, der Körper kühlt ab und das war's auch schon. Und selbst dieser Effekt tritt erst bei grenzwertig hoher Feldbelastung auf, 1000-mal bis 100'000-mal über den Werten, mit denen Sendemasten auf Anwohner einwirken.

Was also läuft schief im Kosmos unseres Zahnarzts? Die Quellenangabe am Fuß seiner Präsentationsseite führt zur Lösung. Allerdings nicht unmittelbar, denn der von Scheingraber genannte Link ...

http://linus.rad.rwth-aachen.de/lernprogramm/stra.htm

... ist inzwischen tot. Die zu Lebzeiten der Seite im Webarchiv abgelegte Kopie vom 14. Februar 2009 zeigt jedoch unmissverständlich, mit was Scheingraber seine Zuhörer übers Ohr gehauen hat: Auf der gesamten Seite geht es einzig und allein um ionisierende Strahlung! Wieder vergleicht der Zahnarzt auf sträflich inkompetente Weise Äpfel (ionisisierende Strahlung) mit Birnen (nicht-ionisierende) Strahlung. Als Arzt müsste er eigentlich wissen, dass die Gefährlichkeit ionisierender Strahlung auf deren Vermögen beruht, in Organismen schädliche chemische Radikale zu erzeugen. Da stimmt dann die Gleichung, wer nur lange genug schwach verstrahlte Staubpartikel einatmet, der reichert auf diese Weise im Laufe der Zeit eine tödliche Gefahr in seiner Lunge an. Nur, bei der nicht-ionisisierenden Strahlung des Mobilfunks gilt dieser Zusammenhang eben nicht. Da kann sich nichts anreichern, auch im Funkfeld ist Staub nur eines: Staub. Auch die vergleichsweise starke Strahlungsquelle Handy macht Staubpartikel nicht radioaktiv. Sobald ein Handy-Gespräch beendet wird erlischt augenblicklich jede denkbare Einwirkung auf den Körper.

Nicht einmal Dr. Franz Adlkofer stützte mit "Reflex" die Behauptung von Scheingraber. Denn bei "Reflex" nahmen die DNA-Brüche nur in einem Zeitfenster von der sechsten bis zur 24sten Stunde nach Befeldungsbeginn zu, danach nahmen sie nicht weiter zu, wie es nach Scheingraber sein müsste, sondern sie nehmen wieder ab! Eine experimentelle Bestätigung der von Scheingraber behaupteten Dosis-Wirkungs-Beziehung sähe anders aus.

Dr. dent. Scheingraber beschäftigt sich schon lange mit Elektrosmog und dessen angeblichen biologischen Nebenwirkungen. Warum der Dentist dennoch mit so hanebüchenen Behauptungen an die Öffentlichkeit geht ist unverständlich, er tut sich und seinem Anliegen damit keinen Gefallen. Aus meiner Sicht sollte er sich besser um die Zähne seiner Patienten kümmern, und nicht zum traurigen Beleg für die Richtigkeit des Peter-Prinzips verkommen.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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