"Gesundheitstipp": Mehr Hirntumore bei Jugendlichen (Elektrosensibilität)
In der Mai-Ausgabe des Magazins "Gesundheitstipp" malt Andreas Gossweiler unter dem Titel "Mehr Hirntumore bei Jugendlichen" auf einer Doppelseite abermals den Mobilfunkteufel an die Wand. Der Autor will seine Alarmmeldung einer neuen Studie aus Frankreich entnommen haben. Das Beste an seiner journalistischen Fehlleistung ist jedoch wieder die Bezahlschranke, die den ungehinderten Zugriff auf den Artikel versperrt.
Ein anonymer Gönner, mutmaßlich Mitglied einer Familie im Südosten Roms, war so freundlich, dem IZgMF ein PDF von Gossweilers vollständigen Artikel zukommen zu lassen. Im www sind nur Vorspann und Einleitung des Werks zu sehen und man erfährt Schlimmes: "Eine neue Studie der französischen Gesundheitsbehörde Agence nationale de Santé publique zeigt: Seit dem Jahr 2000 nahm die Zahl der Hirntumore bei Jugendlichen in Frankreich Jahr für Jahr deutlich zu. Im Jahr 2000 gab es bei einer Million Personen vier Fälle. 2020 waren es mehr als doppelt so viele."
Zaubern mit Zahlen
"Mehr als doppelt so viele" klingt um einiges dramatischer als der nominelle Anstieg von vier Fällen pro Million auf immer noch mickrige etwa acht Fälle. Deutlicher wird das mit der üblichen Bezugsgröße, mit der die Anzahl der Neuerkrankungen auf etwas mehr als 0,8 Neuerkankungen pro 100'000 Personen und pro Jahr schrumpft. Das sind weiß Gott verdammt wenige Fälle. Die taugen denkbar schlecht dazu, Mobiltelefone zu verteufeln.
Die geringe Anzahl dürfte auch dem Autor des Artikels unangenehm aufgefallen sein. Deswegen setzte er nach: "Das bedeutet: Bei den 15- bis 39-Jährigen gibt es etwa drei Mal so viele Hirntumore wie vor 20 Jahren." So werden aus doppelt so vielen hoppla hopp dreimal so viele. Der "Chef vom Dienst" der Gesundheitstipp-Redaktion hätte ob dieses Rechenkunststücks allerdings einschreiten müssen, wenn er denn wach gewesen wäre. Denn es lässt sich mühelos recherchieren, dass auch in Frankreich Jugendliche mit Vollendung des 18. Lebensjahrs volljährig werden und nicht länger Jugendliche sind. 18- bis 39-Jährige den Jugendlichen zuzurechnen ist daher, freundlich gesagt, Blödsinn.
Wie konnte so eine Ungereimtheit passieren? Wer sich auf der Website von Santé publique France die Original-Synthese der Studie ansieht, wird schnell erkennen, der Gesundheitstipp serviert lediglich einige Rosinen, die Gossweiler aus einem großen Studienkuchen herausgepickt hat. Die Studie ist keine Hirntumorstudie, sondern eine allgemeine Krebsstudie und es geht nicht nur um Jugendliche, sondern auch um Erwachsene bis zum 39. Lebensjahr. Beides fehlt im Gesundheitstipp, es hätte die künstliche Dramatik von "Mehr Hirntumore bei Jugendlichen" verwässert.
Andererseits hat Gossweiler einen kleinen, aber bemerkenswerten Hinweis der Studienautoren übersehen, der ihm in die Karten gespielt hätte. Denn die Studienautoren bekunden in ihrer Synthese der Hirntumorenergbnisse:
[...] Bekannte oder vermutete Risikofaktoren sind: ethnische Herkunft, Geschlecht, familiäre Vorbelastung mit Gliomen, genetische Erkrankungen, Strahlenbelastung oder Umwelteinflüsse - (insbesondere Pestizide oder elektromagnetische Felder) sowie bildgebende Untersuchungen mit ionisierender Strahlung. [...]
Das liest man nicht allzu häufig in Stellungnahmen staatlicher Einrichtungen, dass elektromagnetische Felder ein Risikofaktor für Glioblastome sind. Wegen der Formulierung kann nun jeder abhängig von seiner Interessenlage wählen, ob EMF ein bekannter Risikofaktor sind oder nur ein vermuteter.
Gossweilers Experten
"Als Ursache vermuten Experten die immer stärkere Mobilfunkstrahlung", schreibt Gossweiler im Vorspann seines Artikels. Was mögen das für Experten sein, die entgegen der vorherrschenden wissenschaftlichen Einschätzung, Mobilfunkstrahlung als Verursacher von Hirntumoren in Betracht ziehen? Sind die Experten im Vorspann noch vollmundig im Plural anzutreffen, kommt im Fließtext ganz diskret nur noch ein einziger Experte an. Ist es ein Professor der Biologie? Vielleicht ein Epidemiologe oder ein Hausarzt für traditionelle chinesische Medizin? Alles falsch, der Experte des Gesundheitstipps für Hirntumoren bei jungen Leuten ist, wer hätte das gedacht, ein Maschinenbauingenieur und organisierter Mobilfunkgegner! Wäre ich Abonnent des Gesundheitstipp, ich würde die Abogebühr halbieren, mit der Begründung, ich bekäme ja auch halbseidene Artikel vorgesetzt.
Der Artikelautor setzt holterdiepolter weiter auf die Überzeugungskraft des Plurals, lässt dann aber exklusiv nur seinen "Experten" sprechen:
Fachleute sind alarmiert. Niggi Polt, Co-Präsident der Organisation Diagnose:Funk Schweiz, vermutet einen Zusammenhang mit Elektrosmog: «Derartige Krebsfälle weisen auf einen massiven Handygebrauch hin.» Laut Polt können auch Geräte wie drahtlose Kopfhörer einen Einfluss haben. [...] Besonders gross sei das Gesundheitsrisiko durch Funkstrahlen bei Kindern, sagt Niggi Polt. «Bei ihnen dringt die Strahlung viel tiefer in den Schädel.» Junge Erwachsene seien deshalb oft mit Strahlen vorbelastet, denen sie als Kinder ausgesetzt gewesen waren. [...]
Für eine Bäckereifachverkäuferin dürfte die Erklärung des Experten Polt einleuchtend klingen. Doch schon der alte Henry Louis Mencken wusste: Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist. Womit ich auf diese Gegendarstellung verweise, die nicht von einem Maschinenbauer verfasst wurde, sondern von einem ergrauten Wissenschaftler vom Fach. Chung-Kwang Chou ist inzwischen in Rente, sein Wissen über HF-EMF tankte er nicht bei Google, er forschte selber. Doch weil er das im Dienst von Motorola tat, kann Polt die Gegendarstellung kinderleicht verwerfen, ohne sich auch nur im Geringsten mit dem Inhalt auseinanderzusetzen. Es genügt Chous Frevel, für einen Hersteller von Mobiltelefonen gearbeitet zu haben. So einfach lassen sich unbequeme Fakten ignorieren, die nicht ins eigene Überzeugungssystem passen.
Täuschen mit Worten
Gleich zu Beginn seines Artikels über Hirntumoren bringt der Autor Mobilfunkstrahlung als Verursacher ins Gespräch. Doch wer von "Mobilfunkstrahlung" redet, der lässt offen, ob er die Strahlung von Mobiltelefonen meint oder die der Infrastruktur (Funkmasten). Kommt es auf diese Differenzierung nicht an, ist der Gebrauch des Wortes legitim. Organisierte Mobilfunkgegner benutzen den Oberbegriff Mobilfunkstrahlung jedoch auch gerne, um die Quelle einer Strahlung bewusst zu verschleiern. Fiktives Beispiel: Eine Studie ergibt, häufiger Gebrauch von Mobiltelefonen führt zu Schlaflosigkeit und hohen Blutdruck. Die Anti-Mobilfunk-Szene kolportiert solche Befunde dann bevorzugt unter desinformativen Titelzeilen wie "Mobilfunk macht krank und müde." Da nicht eindeutig von Handystrahlung die Rede ist, werden solche Meldungen von gutgläubigen Laien irrtümlich auf Basisstationen bezogen, womit Desinformanten auch schon ihr Ziel erreicht haben. Denn praktisch alle Mobilfunkgegner sind Sendemastengegner, keine Handygegner. Auch Gossweiler reiht sich unter die Desinformaten ein. Mit "immer stärkere Mobilfunkstrahlung" weist er klipp und klar den Weg zu Basisstationen, denn die Strahlung von Mobiltelefonen wurde mit jeder Mobilfunkgeneration schwächer. Unter dem Verdacht, Hirntumoren auszulösen, stehen jedoch nicht Basisstationen, sondern Mobiltelefone! Ich finde es befremdlich, derartige subtile Verdrehungen ausgerechnet in einem Fachblatt für Gesundheitsthemen anzutreffen.
Fremdkörper Chromosomenstudie aus Athem-3
Gossweiler bekam für seinen Artikel von der Redaktionsleitung nur 1½ Druckseiten zugestanden, Experte Polt durfte deshalb nur noch ein paar praxisnahe Handhabungstipps loswerden, wie sie sich an den Lagerfeuern überzeugter Mobilfunkgegner erzählt werden. Mein Favorit: "Handy beim Verwenden möglichst weit weg vom Kopf und vom Körper halten."
Indem er Polt einbremste, gewann der Artikelautor Platz für die Erwähnung einiger einschlägig bekannten Alarmstudien und Gerichtsurteile. Für Quellenangaben reichte der Platz allerdings nicht mehr, deshalb darf gemunkelt und geraunt werden, welche Studie Gossweiler mit folgendem Fragment meint:
Vor einem Jahr veröffentlichte die Medizinische Universität Wien (Ö) eine aufwendige Studie. Die Forscher hatten Blutproben von Personen analysiert, die nahe bei Mobilfunkantennen wohnen. Dabei stellten sie Erbgutschäden fest, die laut den Wissenschaftern das Risiko für Krebs erhöhen.
Mein Tipp, hier ist die Rede von der umstrittenen Chromosomenstudie (Gulati et al.) des "Athem-3-Projekts" der sogenannten Kompetenzinitiative. Die Zuschreibung zur MUW halte ich wegen der Autorenschaft von Wilhelm Mosgöller nicht für grundfalsch, aber für irreführend, weil von den anderen zehn Autoren keiner an der MUW beschäftigt ist. Hauptautor Gulati und die meisten seiner Co-Autoren sind Wissenschaftler am Forschungszentrum der Slowakischen Akademie der Wissenschaften in Bratislava. Und selbstredend hat nicht die MUW die Gulati-Studie veröffentlicht, sondern das Journal Ecotoxicology and Environmental Safety.
Wissenschaftlich haben sich zwei Institutionen kritisch über die Aussagekraft der Chromosomenstudie geäußert (BfS, Berenis), der Fußabdruck der Studie im IZgMF-Forum ist hingegen hier zu sehen. Aber: Mit Hirntumoren bei Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen hat die Studie überhaupt nichts zu tun. Sie ist deshalb an Ort und Stelle ein Fremdkörper, der den Eindruck verstärkt, der Artikel sei hastig zusammengeschustert worden, um in der Mai-Ausgabe des Magazins eine Lücke zu schließen.
--
Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
gesamter Thread:
- "Gesundheitstipp" recycelt elektrosensiblen Felix jährlich -
H. Lamarr,
26.04.2014, 00:14
- K-Tipp - Baubiologe Peter Schlegel - KlaKla, 26.04.2014, 08:10
- "Gesundheitstipp" recycelt elektrosensiblen Felix jährlich -
Lichtwesen,
20.11.2014, 03:01
- "Gesundheitstipp" recycelt elektrosensiblen Felix jährlich -
charles,
20.11.2014, 12:29
- Um Himmels Willen: Niemals selber abschirmen - H. Lamarr, 20.11.2014, 13:11
- Ein Biotop für Lurchi - H. Lamarr, 20.11.2014, 12:51
- Kopfschütteln -
Kuddel,
20.11.2014, 19:54
- Kopfschütteln - charles, 20.11.2014, 22:52
- Kopfschütteln - H. Lamarr, 20.11.2014, 23:33
- "Gesundheitstipp" recycelt elektrosensiblen Felix jährlich -
charles,
20.11.2014, 12:29
- Elektrosensibler Felix an »20 Minuten« weiter gereicht -
H. Lamarr,
05.06.2016, 22:57
- Elektrosensibler Felix wurde 507-mal kommentiert - H. Lamarr, 06.06.2016, 13:04
- Im Tal der Tränen: Laien in der Elektrosmog-Debatte - H. Lamarr, 21.12.2016, 15:22
- Gesundheitstipp: Adrians Geschichte für 3 CHF - H. Lamarr, 23.03.2019, 18:29
- Schweizer "Gesundheitstipp" hetzt gegen 5G - H. Lamarr, 24.03.2025, 22:24
- "Gesundheitstipp": Mehr Hirntumore bei Jugendlichen - H. Lamarr, 21.05.2025, 22:44