Martin Palls langer Weg ins öffentliche Bewußtsein (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Montag, 13.04.2020, 20:23 (vor 1494 Tagen) @ H. Lamarr

Wie diesem Strang zu entnehmen ist, wurde Martin Pall 2008 emeritiert und begann 2013 seine Spätkarriere als Impulsgeber für Mobilfunkgegner in aller Welt. Die Sorgfalt und Fachkompetenz, mit denen Pall im Internet nach Quellen fischt, auf die er seine Alarmimpulse stützen kann, lässt jedoch zu wünschen übrig. Auch sein Geschäft mit "Martin Pall Products" (Nahrungsergänzungsmittel) gereicht ihm nicht zur Ehre. Wissenschaftlich sind Palls EMF-Alarmimpulse bedeutungslos oder bestenfalls umstritten, bei Laien und Umweltmedizinern aber kommt der U.S.-Amerikaner weltweit gut an, besonders mit seinem Wirkmodell der spannungsgesteuerten Kalziumkanäle.

Schon 2013 wollte Pall den großen Coup landen und der Welt seine Hypothese mitteilen, wohl alle beim Menschen bisher vermuteten gesundheitlichen Schäden durch Mobilfunk seinen auf die Aktivierung der spannungsabhängigen
Kalziumkanäle menschlicher Zellen zurückzuführen. Im August 2013 publizierte Pall dies in einer wissenschaftlichen Zeitschrift (Electromagnetic fields act via activation of voltage-gated calcium channels to produce beneficial or adverse effects; Volltext). Der U.S.-Amerikaner bemühte 116 Literaturstellen um seine Hypothese zu untermauern und bekundete, keine Interessenkonflikte zu haben.

So weit, so gut.

Zwei Jahre später entdeckte die wissenschaftlich bedeutungslose Verbandszeitschrift Umwelt - Medizin - Gesellschaft (UMG) Palls Artikel und brachte diesen in Ausgabe 1/2015 auf Deutsch (Elektromagnetische Felder wirken über die Aktivierung spannungsabhängiger Calciumkanäle, um günstige oder ungünstige Wirkungen zu erzeugen; unautorisierter Volltext). Und schon begannen die Merkwürdigkeiten, denn in der Literaturliste der deutschen Übersetzung wurden am Ende zwei ältere Arbeiten des Griechen Dimitris Panagopoulos hinzugefügt. Angeblich, weil diese wichtig seien, dem Autor Pall jedoch nicht "bewusst" waren. Der wahre Grund für die Hervorhebung Panagopoulos' dürfte die Gefälligkeit gewesen sein, vorsorglich auf den hierzulande weithin unbekannten Griechen aufmerksam zu machen, denn dieser sollte ein Jahr später in dem Scheidsteger-Film "Thank you for Calling" als Koryphäe in Erscheinung treten.

Über die Jahre bastelte Pall weiter an seiner Hypothese und trug diese hie und da vor, die große Beachtung aber blieb aus. Dies änderte sich erst 2018. Zuvor gelang es ihm, 2016 von deutschen Umweltmedizinern (EuropaEM) als Referent für Fernlehrgänge der Scopro GmbH engagiert zu werden. Dieser Kontakt und das Aufkommen erster Publikationen über den neuen Mobilfunkstandard 5G sollten ihm in Deutschland zum Durchbruch verhelfen.

Pall teilte seinen deutschen Geschäftspartnern 2018 per E-Mail mit, er habe seine Hypothese an 5G angepasst und bat um deren Verbreitung (Auszug):

[...] The attached is an an extensive considerations of my concerns that I expressed a dinner in Venlo. It is my opinion that time is very short, but perhaps Germany could be the place where this might start to turn around. You may (and I hope will) email this, post this and perhaps even contact important people about it. [...]

(Im Anhang finden Sie eine ausführliche Darstellung meiner Bedenken, die ich bei einem Abendessen in Venlo [Stadt in den Niederlanden; Sitz einer Firma, die "Martin Pall Products" vermarktet] geäußert habe. Ich bin der Meinung, dass die Zeit sehr knapp bemessen ist, aber vielleicht könnte Deutschland das Land sein, an dem sich das Blatt wendet. Sie können das Material per E-Mail in Umlauf bringen (ich hoffe, Sie werden das tun), per Post verschicken und vielleicht sogar wichtige Personen darüber informieren.)

Empfänger von Palls bedeutungsschwerer E-Mail war Dr. rer. nat. Eckart Schnakenberg, erster Vorstand von EuropaEM.

Was Pall im Anhang mitschickte war ein 53-seitiges PDF aus seiner Feder mit dem sperrigen Titel "5G: Great risk for EU,U.S. and International Health! Compelling Evidence for Eight Distinct Types of Great Harm Caused by Electromagnetic Field (EMF) Exposuresand the Mechanism that Causes Them" (Volltext). Das PDF datiert vom 4. April 2018.

Was anschließend passierte lässt sich nur anhand der weiteren Ereignisse rekonstruieren. Palls Papier muss von EuropaEM ausgehend seinen Weg zu der sogenannten Kompetenzinitiative und zu Diagnose-Funk gefunden haben. Dort weckte es Begehrlichkeiten. Die "Kompetenzinitiative" witterte eine Möglichkeit, eine neue alarmierende Broschüre in Deutsch herauszugeben, Diagnose-Funk hingegen wollte sein "wissenschaftliches" Personal noch irgendwie in Palls epochal wichtigem PDF unterbringen, denn Pall erwähnte in seinem Papier, das er EuropaEM schickte, weder Peter Hensinger noch Isabel Wilke mit einem Wort. Es wurde deshalb bei Pall interveniert.

Am 17. Mai 2018 hatte der Biochemiker sein Papier überarbeitet. Statt 53 Seiten hatte es nunmehr 90 Seiten und Hensinger sowie Wilke waren jetzt als Verfasser von zwei "wissenschaftlichen" Übersichtsarbeiten gleich mehrfach vertreten. Aufgefallen ist mir dies nur deshalb, weil bei einer der nachträglichen Einfügungen auf Seite 12 die Schrift-Formatierung nicht stimmt (Literaturstelle 14; siehe Screenshot). Als Technischer Redakteur hat man für derartige Fehler einen Blick.

Screenshot aus Palls 90-seitiger Original-Dokumentation
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Wie eingangs erwähnt ist Pall nicht sehr sorgfältig, in seinem Dokument steht daher nicht "Gesellschaft", sondern "Gesellshaft". Dies deutet stark darauf hin, Pall versteht kein Wort Deutsch. Wie aber konnte er dann die allein in Deutsch vorliegende Literaturstelle [14] überhaupt lesen? Alle vier Vorkommen dieser Literaturstelle zeigen denselben Tippfehler sowie eine falsche Abkürzung ("E.") von Frau Wilkes Vornamen. Noch ärger trifft es die beiden Vorkommen einer weiteren Literaturstelle, die allein Isabel Wilke betrifft. Zwar ist dort ihr Vorname nicht falsch mit "E.", sondern richtig mit "I." abgekürzt, doch stolperte Martin Pall abermals über "Gesellschaft" und machte diesmal daraus "Gesselshaft".

Angeblich hat Martin Pall die 90-Seiten-Ausgabe seiner "prophetischen Warnschrift" (Franz Adlkofer) an viele Behörden der Europäischen Gemeinschaft verschickt, um die Politik mit seinen Bedenken vertraut zu machen. Von einem Zögern oder gar einem Stopp der 5G-Einführung ist bis jetzt jedoch auch in homöopathischer Potenzierung nichts zu bemerken. Dies konnte die "Kompetenzinitiative" 2019 freilich noch nicht wissen, als sie Palls Werk als Heft 12 ihrer Broschürenreihe auf Deutsch herausbrachte. Die Tippfehler im Wort "Gesellschaft" wurden dabei diskret korrigiert, die falsche Abkürzung von Wilkes Vornamen nicht.

Und kaum war das Heft aus der Druckerei gekommen, hatte es ein AfD-Abgeordneter im Bundestag auch schon gelesen und Fragen an die Bundesregierung. Deren Antworten dürften für Martin Pall und die "Kompetenzinitiative" ein Schlag ins Kontor gewesen sein. Doch die Bundesregierung steht nicht allein da, auch Dariusz Leszczynski, einer der wenigen anerkannten Wissenschaftler aufseiten der Anti-Mobilfunk-Szene lässt an Martin Pall und seiner Hypothese kein gutes Haar.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Filz, Diagnose-Funk, Vetternwirtschaft, Hensinger, Broschürenreihe, Umwelt-Medizin-Gesellschaft, Leszczynski, Ko-Ini, UMG, Europaem, Wilke, Pall, Schnakenberg, Calziumkanäle, Nahrungsergänzungsmittel


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