Faktencheck 04: ohne Reim, kein Problem (Allgemein)
[Beginn O-Ton Repacholi, übersetzt von Scheidsteger] "In meiner Studie ging es um Mäuse, die für Lymphome [Tumoren des Lymphgewebes; Anm. Postingautor] veranlagt waren. Und wir entdeckten einen stetiges Wachstum an Lymphomen durch die Funkwellensignale. Wir beschäftigten uns sechs Monate damit, heraus zu bekommen, was wir falsch gemacht haben. Weil wir uns das einfach nicht erklären konnten. Und das können wir bis heute nicht!" [Ende O-Ton Repacholi]
[Scheidsteger] Er findet ein Problem, kann sich bis heute keinen Reim darauf machen wo das Problem wohl herkommt und deshalb gibt es kein Problem. Der dazugehörige Sprachgebrauch wurde vereinheitlicht und weltweit verordnet.
Soso, Mike Repacholi kann sich also bis heute keinen Reim darauf machen wo das Problem wohl herkommt, verkündet Klaus Scheidsteger im September 2019. Hat er bislang in seinem Video klärende Zeitangaben sorgsam vermieden, patzt er an dieser Stelle. Denn heute ist bei ihm nicht etwa im Hier und Jetzt, sondern liegt mindestens 13 Jahre zurück. So alt ist nämlich sein Interview mit Repacholi. Dies wurde ihm in Faktencheck 03 nachgewiesen. Wer noch Zweifel an dieser Irreführung der Zuschauer hatte, jetzt kann er sie einpacken.
Doch warum konnte sich Repacholi von 1997 bis spätestens 2006 nicht erklären, warum seine Mäuse unter relativ schwacher EMF-Befeldung, die aber noch immer merklich über den heute gültigen Grenzwerten lag, signifikant häufiger Krebs bekamen als die unbefeldete Kontrollgruppe? Wollte Repacholi, angeblicher Scherge der Industrie vielleicht gar nichts finden und suchte deshalb in der Sahara nach Eisbären?
Machen Sie sich selbst ein Bild
Wenn ein wissenschaftliches Experiment ein unerwartetes Ergebnis liefert ist es Aufgabe jeder seriösen Forschergruppe, die Versuchsdurchführung auf jeden nur denkbaren Fehler hin zu prüfen, um das unerwartete Ergebnis erklären zu können. Unerwartet ist im Fall von Repacholis Mäusestudie die höhere Krebshäufigkeit, für die es bis 2006 und darüber hinaus bis heute kein wissenschaftlich allgemein anerkanntes Erklärungsmodell gibt. Denn im Gegensatz zu ionisierender Strahlung (Röntgenstrahlung) sind elektromagnetische Felder um Größenordnungen zu energieschwach, um die DNA in Körperzellen schädigen zu können. Die Ratlosigkeit von Repacholi ist daher noch heute gut nachvollziehbar, erst recht rückwirkend aufs Jahr 2006. Das ist das eine.
Das andere ist, dass Repacholi mit den Zweifeln an seiner eigenen Studie prominente Gesellschaft hat. Etwa die deutsche Strahlenschutzkommission (SSK), die, nach Diskussion der Studienresultate mit Repacholi, in ihrer 148. Sitzung am 25. September 1997 keine Gültigkeit der Studie für Menschen sah (Beleg), weil ...
► ... die Experimente bewusst an transgenen Versuchstieren durchgeführt wurden, die durch Genmanipulation eine extrem hohe Instabilität gegenüber verschiedenen Mutagenen aufweisen. Weder bei nicht-transgenen Mäusen noch beim Menschen ist eine solche Reaktion zu erwarten.
► ... das Experiment einige von den Autoren aus versuchstechnischen Gründen in kauf genommene Probleme bei der Dosimetrie hat.
► ... Felder der im Experiment verwendeten Frequenz 900 MHz nur wenige Zentimeter in Körpergewebe eindringen. Bei einer Maus bedeutet dies eine Beeinflussung des gesamten Körpers, beim Menschen lediglich einen kleinen Bereich, z.B. des Kopfes.
► ... mehrere Publikationen vorliegen, die bei ähnlicher Exposition keine Effekte zeigen.
Im Zweifel replizieren
In der Wissenschaft gehören widersprüchliche Studienergebnisse zum Alltag und wenn der Gegenstand widersprüchlicher Studien Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung haben kann, fängt die Wissenschaft nicht an zu reimen, sondern versucht mit der Wiederholung alarmierender Studien zu klären, ob ein Alarm gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn voneinander unabhängige Arbeitsgruppen die Ergebnisse alarmierender Studien mit unverändert gleichem (oder einem verbesserten) Studiendesign bestätigen können. Je häufiger so eine Replikation gelingt, desto wahrscheinlicher ist es, dass der beobachtete Effekt tatsächlich real und nicht etwa einem Fehler im Studiendesign oder der Versuchsdurchführung geschuldet ist. Dieses Vorgehen ist sinnvoll und plausibel, fanatische Mobilfunkgegner sind die einzigen, die daran Anstoß nehmen und die Forderung nach Replikationen als Intrige oder Schikane "der Industrie" sehen. Ziel: Alarmstudien die Wirkung rauben.
Repacholis Mäusestudie wurde zweimal repliziert, zuerst 2002 von der Arbeitsgruppe Utteridge und 2007 noch einmal von der Arbeitsgruppe Oberto. Beide Arbeitsgruppen konnten die alarmierenden Ergebnisse Repacholis nicht bestätigen.
Die Zweifel, die der Australier im Interview mit Scheidsteger an seiner eigenen Studie einräumt, sind daher für jeden verständigen Menschen voll gerechtfertigt. Sie sind kein Grund, sich abwertend darüber zu äußern. Im Gegenteil: Aus meiner Sicht zeigen sie vielmehr die Ernsthaftigkeit, mit der Repacholi seine Arbeit als Wissenschaftler begriffen hat. Statt mit seiner weltweit Aufsehen erregenden Studie zu kokettieren und sich vielerorts mit den Studienergebnissen zu brüsten, mahnte der damalige EMF-Koordinator der WHO zur vorsichtigen Interpretation. Dies unterscheidet ihn gravierend von Franz Adlkofer, der keine Gelegenheit ausließ, mit seinem "Reflex"-Projekt in die Öffentlichkeit zu drängen und Alarm zu schlagen, anfangs verhalten, später zunehmend lauter. Auf Adlkofer werde ich in einem späteren Faktencheck des Scheidsteger-Elaborats noch einmal zurück kommen.
Sowohl Repacholis Mäusestudie als auch die beiden Replikationsstudien lösten etliche Kommentare von Wissenschaftlern in Fachjournalen aus. Wer wann kommentierte ist in den oben verlinkten Einträgen der Studien im EMF-Portal zu sehen (z.B. Lin J., Goldstein L. S., Kundi M., Lerchl A.). Leider sind für Zaungäste die ausnahmslos englischen Kommentare nicht gratis einsehbar, davon ausgenommen ist (aus technischem Grund) nur der Kommentar von Kundi. Der als Mobilfunkkritiker bekannte Österreicher hat Repacholis alarmierende Studie nicht kommentiert, die Entwarnung von Utteridge hingegen kommentiert er kritisch. Franz Adlkofer berief nach Gründung seiner Forschungsstiftung "Pandora" (sammelt u.a. Spenden für gezielt mobilfunkkritische Forschung) Michael Kundi in deren Stiftungsrat.
Dr. Repacholi mit Dr. No verwechselt
Wenn Zaungast Scheidsteger 2019 im nebulösen Passiv behauptet, der "dazugehörige Sprachgebrauch wurde vereinheitlicht und weltweit verordnet" (von wem?, fűr wen?), so ist anzunehmen, dass er als Täter den WHO-Mann Repacholi meint und als Opfer meinungsbildende Teile der Weltbevölkerung (z.B. Wissenschaftler, Ärzte, Politiker).
Dem Trachten von Dr. No nach der Weltherrschaft kam James Bond in die Quere, zur WHO stellt sich die Eitelkeit der weltweiten Wissenschaftsgemeinschaft quer, die sich ganz gewiss nicht etwas "verordnen" lässt. Womit ich sagen will: Scheidstegers formuliert nicht mehr und nicht weniger als eine kleine Verschwörungstheorie, für die er nicht den Funken eines Belegs bringt. Mutmaßlich hat der Filmemacher nicht auf dem Schirm, dass Wissenschaft ein kumulativer Prozess ist. Eine einzelne Alarmstudie erregt in einer von widersprüchlichen Ergebnissen dominierten Studienlandschaft keinen Wissenschaftler, Laien hingegen schon. Erst wenn sich durch gelungene/misslungene Replikationsstudien und innovative neue Studien ein mehrheitlich gefestigtes Bild der Studienlage herausgeschält hat, spricht die Wissenschaft mit einer Stimme. In der Realität spricht sie selbstredend nie mit einer Stimme, ein paar Abweichler finden sich immer – so ist das nun mal in Prozessen, die nach Grundregeln der Demokratie funktionieren.
Gäbe es den von Scheidsteger verordneten Sprachgebrauch tatsächlich, das Internet würde nicht seit eh und je schier überquellen an Alarmmeldungen über die angebliche Schädlichkeit elektromagnetischer Felder. Höchstens 1 Prozent dieser Meldungen, so meine Schätzung, sind fachlich fundiert, der Rest sind mehr oder weniger unqualifizierte Quellen, deren Bandbreite von Sonderlingen über Geschäftemacher, Filmemacher, Bürgerinitiativen und Anti-Mobilfunk-Vereine bis hin zu Pseudowissenschaftlern reicht. No problem? Doch, wer diese Spreu nicht vom Weizen trennen kann, hat ein erhebliches Orientierungsproblem und backt sein Brot nur zu leicht mit Spreu.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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