War-Gaming für den Profit: Knurren gegen die "Mobilfunk-Mafia" (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 01.12.2019, 22:58 (vor 1817 Tagen)

Von Pseudowissenschaftlern ist bekannt, diese zitieren sich gerne gegenseitig, um die Zirkulation ihrer Publikationen bei Laien in Gang zu bringen. Organisierte Mobilfunkgegner praktizieren seit kurzem eine Variante dieses Spielchens: Der Anti-Mobilfunk-Verein Diagnose-Funk beauftragte den Gesinnungsfreund Klaus Scheidsteger, einen Kurzfilm über angebliche Machenschaften der Mobilfunkindustrie anzufertigen. Was dabei herausgekommen ist, jeder kann es sich leicht denken.

Das aus meiner Sicht größte Problem des Filmemachers Scheidsteger ist schnell gesagt: Er saugt in der Anti-Mobilfunk-Szene kolportierte Gerüchte oder schwach belegte Vermutungen auf wie ein trockener Schwamm, mischt die Stimmen überzeugter Mobilfunkgegner hinzu und serviert diesen Cocktail so, als bestünde der aus mühsam recherchierten harten Fakten. Doch machen Sie sich so vorgespannt selbst ein Bild von der Qualität der jüngsten Scheidsteger-Schöpfung:

Wie üblich schnippelte Scheidsteger für seine jüngste Auftragsarbeit zusammen, was bei Drei nicht auf den Bäumen war. Übrig blieben im wesentlichen wieder einmal dieselben Personen, die schon aus älteren Anti-Mobilfunk-Kriegsfilmen des Filmemachers bekannt sind: Michael Kundi, Wilhelm Mosgöller, Franz Adlkofer, Hugo Rüdiger, Mike Repacholi der unvermeidliche George Carlo sowie Tina Goebel. Das ist die personelle Stammmannschaft Scheidstegers. Neu hineingeschnitten wurden diesmal Investigate Europe, Mark Hertsgaard, Martin L.Pall, Henry Lai, Ron Melnik und Fiorella Belpoggi. Von Repacholi abgesehen fährt Scheidsteger in 26 Minuten nicht weniger als zwölf Verschworene gegen die "Mobilfunk-Mafia" auf. Der Kurzfilm bietet damit wie von Scheidsteger gewohnt eine extrem einseitige Sicht auf die Mobilfunkdebatte und der Zuschauer muss wohl oder übel glauben, was ihm vorgesetzt wird. Dass Scheidsteger noch immer auf George Carlo baut, obwohl gegen diesen US-Lobbyisten im www mühelos mehrere stabile und glaubwürdige Beweisketten zu finden sind, ist mir unverständlich. Möglicherweise spekuliert Scheidsteger darauf, seine in weiten Teilen älter Kundschaft würde vor den englischsprachigen Quellen kapitulieren, so diese Zielgruppe überhaupt auf die Idee kommen, im Internet nach Carlo zu suchen.

Neues erfahren die Stammleser dieses Forums nicht. Das ist nachvollziehbar, denn der Kurzfilm ist nicht an gut informierte Personen adressiert, sondern an bequeme Volllaien, die angebotene Information/Desinformation passiv konsumieren und wenig Neigung zum Hinterfragen zeigen.

Der Aufhänger des aktuellen Streifens ist ein "War-Game-Memorandum" der Agentur Burson-Marsteller an Motorola, das Scheidsteger bereits in "Thank You for Calling" verwurstet hat. Dieses Memo ist im www nicht zu finden. Auch Scheidsteger bietet sein Exemplar nicht zum Download an, so dass sich kein Betrachter von der Authentizität des Papiers und seines Inhalts selbst überzeugen kann. Der angebliche Beleg für das Memo in einer alten Ausgabe von Microwave News ist keiner, denn dabei handelt es sich um ein anderes Memo von Burson-Marsteller, was am Datum einfach zu erkennen ist.

Ziel des oder der Memos soll es gewesen sein, die beiden US-Wissenschaftler Henry Lai und Narendra P. Singh gezielt unglaubwürdig zu machen. Auch Lai behauptet dies. Motorola hingegen widerspricht. Das US-Unternehmen machte 2008 geltend, es habe nicht versucht, die Forschungsergebnisse der beiden zu unterdrücken, vielmehr wollte es die seinerzeit neuen Ergebnisse (DNA-Einzelstrangbrüche unter schwacher EMF-Einwirkung) von einer unabhängigen Replikation bestätigt sehen. Dies klingt nicht nach einer Ausrede, denn es ist gängiger wissenschaftlicher Standard, dass alarmierende Studien erst dann für voll genommen werden, wenn ihre Wiederholung durch mindestens eine andere Arbeitsgruppe gelingt. Im Fall von Lai/Singh muss die Replikation gescheitert sein, denn noch heute sehen internationale wie nationale Expertengremien keine ausreichende Evidenz für genotoxische Wirkungen hochfrequenter elektromagnetischer Felder unterhalb der Grenzwerte.

Lai/Singh befeldeten 1995 in ihrem Labor Ratten mit Leistungsflussdichten von 10 W/m² und 20 W/m² was zu einer mittleren Ganzkörper-SAR von 0,6 W/kg und 1,2 W/kg führte. Diese Werte überschreiten die heute zulässige Ganzkörper-SAR von 0,08 W/kg um das 7- bis 15-fache. Damit kann auch diese Studie nicht gegen die Immission durch Sendemasten ins Feld geführt werden, sondern allein gegen körpernah betriebene Endgerät wie Smartphones. Scheidsteger verzichtet großzügig auf diese Differenzierung, ihm kommt es in seinem Film allein darauf an, Misstrauen gegenüber einer angeblich intriganten Mobilfunkindustrie zu säen. Dabei klingen die von ihm verlesenen Auszüge aus dem "War-Game-Memo", wenn man sie unaufgeregt wertet, gar nicht so dramatisch, wie er es gerne hätte. Gut möglich, dass er das Memo mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten künstlich dramatisieren möchte, und er es deshalb wohlweislich nicht heraus gibt.

Auch das Jonglieren mit der Angst vor DNA-Strangbrüchen lässt sich relativieren, denn jeder von uns erleidet täglich im Mittel in jeder Körperzelle deren 50'000 Einzelstrangbrüche. Die Zellen sind darauf eingerichtet und wissen damit umzugehen. Damit will ich das noch immer nicht restlos ausgeschlossene Krebsrisiko durch den Gebrauch von Mobiltelefonen nicht verharmlosen, sondern darauf hinweisen, dass DNA-Strangbrüche eben nicht automatisch Krebs bedeuten. Auch diese Differenzierung sucht man in Scheidstegers Streifen zum Thema Mobilfunk vergeblich.

Von 11. September 2019 bis heute ist Scheidstegers Kurzfilm auf YouTube 9'521-mal gestartet worden, 136 finden das Werk gut, sechs finden es schlecht. Die 25 Kommentare auf YouTube geben Auskunft, wie hell die Kerzen sind, die sich dort verewigt haben.

Auf Links zu Quellen habe ich diesmal absichtlich verzichtet, denn diese zu setzen ist eine mühsame Angelegenheit und Scheidsteger belegt seine Behauptungen aus dem Off ja ebenso wenig mit Quellen.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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