Japan: Es herrscht Strahlenphobie (Forschung)

H. Lamarr @, München, Samstag, 03.09.2011, 12:23 (vor 4693 Tagen)

Der Mediziner Shunichi Yamashita soll den Menschen im Katastrophengebiet von Fukushima die Wahrheit über die Strahlenrisiken erklären. Keine leichte Aufgabe. Denn wie gefährlich sind niedrige Dosen radioaktiver Strahlung? Innerhalb der Wissenschaft ist diese Frage umstritten. Dies jenen zu vermitteln, die derzeit in Fukushima solcher Gefahr ausgesetzt sind, erinnert stark an die Situation, wenn verängstigten Bürger zwischen Flensburg und Berchtesgaden erklärt werden soll, sie müssten vor Mobilfunk/Tetra-Sendemasten keine Angst haben.

Der Strahlenschutzexperte Yamashita, 59, hat viel zum Wissen über die Wirkung radioaktiver Strahlung beigetragen: Er wirkte an Studien über die Überlebenden des Atombombenabwurfs auf Nagasaki mit. Und als Abgesandter Japans hat er die Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl untersucht. Nachfolgend Auszüge aus einem "Spiegel"-Interview mit Yamashita, die zeigen, dass physikalisch zwischen IR und NIR Welten liegen, die Risikowahrnehmung der Menschen jedoch praktisch identisch ist. Sachargumente haben es im Umfeld der "Strahlenphobie" hier wie dort schwer.


SPIEGEL: ... haben Sie Jahresdosen von 100 Millisievert für unbedenklich erklärt? Dieser Grenzwert gilt normalerweise für Kraftwerksarbeiter in Notfällen.

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Yamashita: Ich habe nicht gesagt, dass die Menschen sich keine Sorgen machen müssen. Ich habe nur gesagt, dass es unterhalb dieser Grenze keine Beweise für erhöhte Krebsraten gibt. Das wissen wir aus der Forschung in Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl.

[...]

SPIEGEL: Sie sind wegen Ihrer abwiegelnden Äußerungen zur Reizfigur geworden. Ein japanischer Journalist will Sie verklagen. Anti-Atom-Aktivisten …

Yamashita: … das sind keine Wissenschaftler, keine Ärzte, keine Strahlenmediziner. Und sie kennen die internationalen Standards nicht, an denen die Forscher hart gearbeitet haben. Es macht mich traurig, dass die Leute so leicht Gerüchten, Zeitschriften und sogar Twitter glauben.

[...]

SPIEGEL: Welche Strahlenschäden müssen die Einwohner rund um das Werk in Fukushima befürchten?

Yamashita: Ich glaube nicht, dass es irgendeinen direkten Effekt der Strahlung gibt, dazu sind die Dosen zu klein.

SPIEGEL: Keinen einzigen Krebsfall, keinen einzigen Krebstoten?

Yamashita: Auf Basis der Daten müssen wir das annehmen - außer für die Arbeiter im Kraftwerk, da sieht es anders aus.

[...]

Yamashita: ... Wir fragen, wo die Leute am 11. März zu welcher Uhrzeit waren, und dann für jeden weiteren Tag im März. Wir fragen auch, was die Menschen die ersten zwei Wochen nach dem 11. März gegessen haben. Wir wollen diese Daten mit der Verbreitung der radioaktiven Wolke in Verbindung bringen und so die Dosis nachträglich berechnen.

SPIEGEL: Wie viele sollen teilnehmen?

Yamashita: Alle zwei Millionen Einwohner der Präfektur Fukushima. Es ist eine gewaltige Aufgabe, es wäre ein Wissenschaftsrekord.

SPIEGEL: Und die Kinder?

Yamashita: Wir wollen die Schilddrüsen aller unter 18-Jährigen mit Ultraschall testen, insgesamt 360 000 Kinder. Bis Schilddrüsenkrebs nach Strahlenexposition auftritt, dauert es etwa fünf Jahre, das wissen wir von Tschernobyl.

SPIEGEL: Untersuchen Sie auch die seelischen Folgen der Katastrophe?

Yamashita: Unbedingt. Aus Tschernobyl wissen wir, dass die psychischen Schäden gewaltig sind. Die Lebenserwartung der Evakuierten sank von 65 auf 58 Jahre - und das lag nicht an Krebs, sondern an Depressionen, Alkoholsucht und Suizid. Eine Evakuierung ist gewaltiger Stress. Wir müssen solche Probleme nicht nur erfassen, sondern auch behandeln, sonst fühlen sich die Menschen als Versuchskaninchen missbraucht.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Spiegel, Phobie, Fukushima, Atom


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