Kontroverse Dariusz Leszczynski vs. Martin L. Pall (Allgemein)
Im März 2015 verkündete der emeritierte Biochemiker Martin L. Pall, das Rätsel um eine athermische Schadwirkung von EMF gelöst zu haben. Reaktionen blieben hierzulande aus, bis sich im März 2019 die sogenannte Kompetenzinitiative daran machte, die These von Pall mit Heft 12 ihrer Broschürenreihe auf 120 Seiten in deutsch zu verwursten. Der Bundstagsfraktion der AfD kam das Heft gerade recht, um sich als Reichsbedenkenträger gegen Mobilfunk in Szene zu setzen. Dummerweise ging der Schuss nach hinten los, denn sogar eine ganze Reihe wissenschaftlich beschlagener Mobilfunkkritiker distanzierte sich von Palls These.
Was sich gegenwärtig in der Anti-Mobilfunk-Szene abspielt ist so selten wie Steinpilze auf Helgoland. Üblicherweise darf in der Szene jeder noch so grobe Stuss verbreitet werden, ohne dass sich offen Widerspruch regt. Das liegt zum einen daran, dass die personell dünn besetzte Szene selbst auf peinliche Mitstreiter nicht verzichten will, zum anderen fehlt es hinten und vorne an fachlichen Qualifikationen, um Stuss überhaupt erkennen, geschweige denn kompetent widersprechen zu können.
Die kluge Erkenntnis der Freifrau Ebner von Eschenbach (1830 – 1916), "Wer nichts weiß, muss alles glauben" wurde jetzt der "Kompetenzinitiative" (KOI) zum Verhängnis. Denn die KOI setzte mit Martin L. Pall auf das falsche Pferd. In der Hoffnung, es werde schon stimmen, was der inzwischen bald 80-Jährige (Jg. 1942) US-Amerikaner sich ausgedacht hat, ließ die KOI drei fachliche Laien auf Palls Elektrosmog-Wirkmodell der spannungsgesteuerten Kalziumkanäle los (VGCC): Eine Baubiologin in Kanada (Katharina Gustavs) übersetzte Palls Text ins Deutsche, das Lektorat der Übersetzung geht auf das Konto der beiden Germanisten Karl Richter und Peter Ludwig.
Das Bundesamt für Strahlenschutz konnte die KOI mit der Pall-These nicht beeindrucken. Kurz darauf meldete mit Henry Lai ein bekannter US-Mobilfunkkritiker auf Dariusz Leszczynskis' Blog Zweifel an Palls These an. Am 28. Juni 2019 legte Leszczynski nach und schreibt (nachbearbeitete Google-Übersetzung):
[...] Martin Pall hat selbst keine experimentellen Untersuchungen zu EMF durchgeführt. Er sichtete Studien, die Auswirkungen von EMF auf den Kalziumstoffwechsel in Zellen dargestellen, und stellte auf Grundlage dieser Studien die Hypothese auf, VGCC sei der biologische Wirkmechanismus für EMF-Exposition.
In seiner Ankündigung der "VGCC-Kalziumhypothese" ging Pall noch weiter und behauptete: "Kalziumkanäle sind der wichtigste, möglicherweise sogar der einzige Angriffspunkt für elektromagnetische Felder."
Martin Pall kann als erfahrener Biochemiker angesehen werden, ihm fehlen jedoch ausreichende Kenntnisse über die verschiedenen Formen von EMF. Deshalb sieht es ganz so aus, dass er bei der Formulierung seiner VGCC-Hypothese Äpfel und Birnen miteinander vergleicht. Das ist der Casus knacksus. Denn die biologische und gesundheitliche Forschung zu Auswirkungen von EMF leidet unter Studien, die –, weil die Autoren zwar in Biologie fit sind, die Physik von Funkwellen ihnen jedoch fremd ist –, zu falschen Schlussfolgerungen gelangen. [...]
Meiner Kenntnis nach hat es eine derart scharfe offene Kritik eines wissenschaftlichen Mobilfunkkritikers an einem Gesinnungsfreund noch nicht gegeben. Nur hinter vorgehaltener Hand wurde von Mobilfunkkritikern z.B. auch gegenüber Karl Hecht ähnliche Kritik geäußert, Hecht möge ein guter Mediziner sein, von Mobilfunktechnik aber verstünde er nichts. Außerhalb der Blase der Mobilfunkkritiker sind Zweifel an der Kompetenz von deren Wortführern hingegen keine Seltenheit (Beispiel Hecht).
Leszczynski bringt in seinem Blog eine chronologische Korrespondenz, die zeigt, Martin Pall geriet bereits 2015, unmittelbar nach dem Aufstellen seiner VGCC-Kalziumhypothese, unter Beschuss durch fünf andere Mobilfunkkritiker. Außerhalb der Blase hat sich anscheinend niemand für Palls vermeintlich großen Wurf interessiert. Symptomatisch für die Anti-Mobilfunk-Szene ist die Unbelehrbarkeit vieler ihrer Wortführer. Pall weiß seit 2015, dass seine Idee eines athermischen EMF-Wirkmodells selbst unter Artgenossen nicht gut angesehen ist. Dennoch lässt Pall es zu, dass vier Jahre später die KOI seine umstrittene These in deutscher Sprache weiter verbreitet als sei nichts gewesen. So erfährt der Leser der Broschüre (z.B. die AfD) nichts von den bereits 2015 vorgebrachten Einwänden. Leszczynski wird in dem Heft mit keiner Silbe erwähnt, Lai schon, jedoch in ganz anderen Zusammenhängen.
Salbungsvoll hofiert Pall den hier im Forum nur zu gut bekannten durchtriebenen Lobbyisten George L. Carlo. Dass Carlo 1999 Henry Lai von der Washington-Uni feuern lassen wollte verschweigt er tunlichst – es passt nicht zu seiner rosarot gefärbten Darstellung des vermeintlichen Tausendsasas Carlo.
Leszczynski ist wahrscheinlich über Palls Lernresistenz verärgert. In der Chronologie von 2015 ergänzte er "I absolutely disagree with what Martin Pall is saying." Bei den Kommentaren am Ende des Blog-Beitrags wird er noch deutlicher:
Pall is mistaken and someone needs to point it out. Activists need to consider what evidence they present and rely on. Mistaken and outlandish claims are easy to debunk ...
Recht hat er! Zum Glück versteht Leszczynski (ohne Google-Translator) kein Deutsch. So bleibt er wenigstens von den hanebüchenen Ergüssen selbsternannter Anti-Mobilfunk-Experten aus den D-A-CH-Ländern verschont.
Für die KOI ist die Kontroverse ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite vermasselt Leszczynski ihr die ersehnte wissenschaftliche Anerkennung, als Herausgeber des (vermeintlich) epochal wichtigen Heftes 12 der KOI-Broschürenreihe ruhmreich in die deutsche Literaturgeschichte einzugehen. Andererseits könnte die Kontroverse das für Oktober 2019 geplante KOI-Symposium ein wenig beleben, das wegen seiner zu 100 Prozent einseitigen Ausrichtung auf Anti-Mobilfunk-Referenten (darunter Leszczynski, Pall & Carlo) ansonsten große Gefahr läuft, zu einer belanglosen Verlautbarungsveranstaltung zu werden, der bestenfalls restlos überzeugte Laien aus der Szene noch etwas Anziehendes abgewinnen können.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –