HUJs Irrtümer (12): "Bagatellverfahren" für 5G-Antennen (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 26.05.2024, 19:33 (vor 186 Tagen) @ H. Lamarr

Behauptung: [...] Wie das soeben veröffentlichte Bundesgerichtsurteil 1C_506/2023 vom 23.April 2024 nun aufzeigtt, ist bei bestehenden Mobilfunk Sendeanlagen die nachträgliche Aufschaltung des sogenannten Korrekturfaktors ohne offizielle Baupublikation und ohne Einsprachemöglichkeit der betroffenen Bevölkerung, lediglich in einem sogenannten Bagatellverfahren rechtswidrig. Das hätte allein im Kanton Bern zur Folge, dass in 127 Gemeinden 380 5G-Antennen sofort stillgelegt und einem offiziellen Baubewilligungsverfahren zugeführt werden müssten. [...]
Quelle: 5G: Endlich Klartext aus Lausanne
Jahr: 2024

Berichtigung: Die Schlussfolgerung, die der Ex-Gigaherz-Präsident aus dem Urteil des Bundesgerichts zieht, ist völlig falsch. Keine einzige adaptive 5G-Antenne in der Schweiz muss infolge des Urteils weder sofort noch später stillgelegt werden. Dies lässt sich auch für juristische Laien dem Urteil des Bundesgerichts zweifelsfrei entnehmen, vorausgesetzt, es liegen keine allzu großen kognitiven Schwierigkeiten mit dem Textverständnis vor.

Aber der Reihe nach ...

Um die Bequemen seiner Leser im Ungewissen zu lassen, nennt Jakob zwar das Aktenzeichen des Urteils, verlinkt dieses jedoch nicht, sondern nur seine irreführenden Begleitbeiträge zum Thema. Deshalb hier zuerst der Link zum Urteil. Da das Thema etwas verzwickt ist, empfehle ich zur weiteren Vorbereitung den Forumbeitrag Bundesgericht stützt Rechtsauffassung der Mobilfunkgegner, aus dem hervorgeht ...

► Das aktuelle Urteil des Bundesgerichts betrifft ausschließlich adaptive 5G-Antennen im 3,6-GHz-Band, die in den vergangenen Jahren in Ermangelung einer verbindlichen rechtlichen Regelung vorübergehend mittels einer "Worst-Case"-Betrachtung bewilligt wurden. Nach Schließung der Rechtslücke durch Aktualisierung der NIS-Verordnung (NISV) am 1. Januar 2022 durften die Betreiber derart bewilligte Antennen, gestützt auf eine NISV-Vollzugshilfe nachträglich gemäß dem "Bagatellverfahren", d.h. ohne Einsprachemöglichkeit von Anwohnern, mit höherer Sendeleistung speisen. Diese Praxis, der jetzt mit dem Urteil die Rechtsgrundlage entzogen wurde, war bundesrechtlich von der Aktualisierung der NISV gedeckt.
► Die "Worst-Case"-Betrachtung behandelt adaptive Antennen wie konventionelle Antennen und lässt die räumlich und zeitlich variable Abstrahlung unberücksichtigt, wodurch adaptive Antennen strenger betrachtet werden als konventionelle. Diese Ungleichbehandlung soll durch einen "Korrekturfaktor" für die Anhebung der maximalen Sendeleistung ausgeglichen werden.
► Das aktuelle Urteil kommt nicht überraschend, es hat sich seit etwa zwei Jahren in der Rechtsprechung des Bundesgerichts angekündigt.

Tenor des aktuellen Urteils

Die Anwendung des Korrekturfaktors auf bisher nach dem "Worst-Case"-Szenario bewilligte adaptive Antennen führt zu Leistungsspitzen, die deutlich (je nach Korrekturfaktor bis zu 10-mal) über der bisherigen maximalen Sendeleistung liegen können. Die bewilligte Sendeleistung muss nur noch im Mittelwert über sechs Minuten eingehalten werden. Dies hat zur Folge, dass die für ein OMEN berechnete elektrische Feldstärke kurzfristig um maximal Faktor drei übertroffen werden kann. Diese faktische Änderung des Betriebs begründet regelmäßig ein Interesse der Anwohnerschaft und der Öffentlichkeit an einer vorgängigen Kontrolle, ob die Bewilligungsvoraussetzungen erfüllt sind. Dies gilt auch dann, wenn die Strahlungsbelastung von adaptiven Antennen in der Umgebung der Anlage insgesamt tiefer liegt als bei konventionellen Antennen, da gerade die Strahlungsspitzen in breiten Teilen der Bevölkerung Besorgnis erregen. Im Übrigen können adaptive Antennen auch ohne Anwendung eines Korrekturfaktors adaptiv betrieben werden, mit den sich daraus ergebenden Vorteilen (geringere Strahlung in Richtungen, in denen sich keine Endgeräte befinden).

Kantonale Regelungen zulässig

Dass trotz klarer Regelung für die Zulässigkeit des Bagatellverfahrens auf Bundesebene weiterhin Rechtsunsicherheit herrschte, liegt an dem Schweizer Raumplanungsgesetz (RPG). Denn Art. 22 Abs. 1 RPG (SR 700) legt fest, "Bauten und Anlagen dürfen nur mit behördlicher Bewilligung errichtet oder geändert werden." Schweizer Kantonen steht es jedoch frei, die Bewilligungspflicht breiter zu fassen und bestimmte Vorhaben von der Bewilligungspflicht zu befreien, z.B. das Parken von Wohnmobilen auf öffentlichen Straßen. Im Kanton St. Gallen, dort wollte Swisscom in der Gemeinde Wil die streitgegenständlichen Antennen nach dem "Bagatellverfahren" entfesseln, ist die Bewilligungspflicht im Planungs- und Baugesetzt (PBG), Art. 136 geregelt. Da Mobilfunkantennen dort nicht von der Bewilligungspflicht befreit sind, hatte das Bau- und Umweltdepartement des Kantons St. Gallen eine Rechtsgrundlage, die Beschwerde der Swisscom gegen die Forderung der Gemeinde, ein ordentliches Baugesuch einzureichen, abzuweisen und so ein Verfahren auf den Weg zu bringen, das letztlich beim Bundesgericht landete.

Folgen des Urteils

Das Urteil des Bundesgerichts verlangt keine Stilllegung betroffener 5G-Antennen. Diese können ohne Weiteres gemäß der Bewilligung nach dem "Worst-Case-Szenario" rechtssicher weiter betrieben werden. Für Mobilfunknetzbetreiber ist dies auf Dauer jedoch keine befriedigende Lösung, da dieser Betrieb die Reichweite (Versorgungsgebiet) adaptiver Antennen merklich einschränkt und dies nur mit einer Netzverdichtung kompensiert werden kann. Diese aber ist a) kapitalintensiv und b) mit einer von irrationaler Furcht vor Funkmasten getriebenen Bevölkerung nur gegen erheblichen Widerstand durchzusetzen. Das Urteil des Bundesgerichts wirft damit die Schweiz zurück ins Jahr 2019, als die Aktualisierung der NISV noch nicht galt und alle adaptiven Antennen gemäß dem "Worst-Case"-Szenario betrieben werden mussten.

Ein Ausweg aus der verfahrenen Situation nach dem Wegfall des "Bagatellverfahrens" wäre der steinige Weg, für bestehende adaptive Antennen die Erhöhung der Sendeleistung mit einem ordentlichen (nicht vereinfachten) Bewilligungsverfahren zu beantragen und gegen den Widerstand von Anwohnern durchzusetzen. Ginge es nur um wenige Antennen, wäre dieser Weg wohl gangbar. Angaben aus der Anti-Mobilfunk-Szene zufolge sind von dem Urteil schweizweit jedoch hochgerechnet einige tausend Antennen betroffen, was, wenn die Schätzung zutrifft, zu einer ausufernden Belastungsprobe für die Bewilligungsbehörden und die Justiz der Schweiz führen würde.

Ein anderer Ausweg wäre es, in der kantonalen Baugesetzgebung adaptive 5G-Antennen, die bereits nach dem "Worst-Case"-Szenario bewilligt wurden, anlässlich der nachträglichen Anwendung des Korrekturfaktors von der ordentlichen Bewilligungspflicht zu befreien. Doch so einfach geht das nicht, wie das Urteil des Bundesgerichts in Abschnitt 3.3 unter Bezugnahme auf das Bau- und Umweltdepartement des Kantons St. Gallen andeutet. Dort heißt es:

[...] Eine Befreiung von der Baubewilligungspflicht bedürfe einer formell-gesetzlichen Grundlage (wie z.B. in Art. 18a RPG für Solaranlagen); eine Regelung auf Verordnungsstufe genüge nicht. Im Übrigen äussere sich Ziff. 62 Abs. 5bis Anh. 1 NISV auch gar nicht zur Baubewilligungspflicht.

Neue gesetzliche Grundlage schaffen

Doch die Erfolgsaussichten einer Befreiung von der Baubewilligungspflicht auf gesetzlicher Grundlage sind ungewiss. Denn die Schweizer Regierung ist bereits zweimal in der kleinen Kammer des Parlaments (Ständerat) mit dem Versuch gescheitert, die Anlagegrenzwerte ohne Klimmzüge moderat zu lockern, zuletzt war dies erst Mitte 2023 der Fall, davor scheiterte der Gesetzesentwurf im Dezember 2016 nur knapp. Allerdings hat sich inzwischen die Stimmungslage in Europa zu Ungunsten organisierter Mobilfunkgegner geändert. So scheiterte die Europäische Bürgerinitiative "Stop 5G" am 1. März 2023 krachend und Ende April 2024 hob der italienische Gesetzgeber den vor rd. 20 Jahren festgezurrten Vorsorgewert 6 V/m auf 15 V/m an. Das sind nur zwei Beispiele von mehreren, die zeigen, wie die Anti-Mobilfunk-Szene zunehmend in die Defensive gerät. Auch der Rückzug des NTP (USA) von der HF-EMF-Forschung zählt dazu, die kommende neue EMF-Risikobewertung der WHO wird ein übriges tun. Die Anti-Mobilfunk-Szene reagiert auf diese Entwicklung mit Durchhalteparolen und intensivierter Desinformation. Bei dieser vorteilhaften Gemengenlage wäre ein dritter Vorstoß der Schweizer Regierung, diesmal bescheiden nur zur Sanktionierung des "Bagatellverfahrens", aus meiner Sicht nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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