Hirntumoren: Hardell fand 1999 für NMT Risikoanstieg (Forschung)
Mithin stellt sich m.M.n. die Frage, ob sich angesichts der geringen Verbreitung und der der üblichen (vergleichsweise kurzen) Expositionszeiten überhaupt ein Zusammenhang zu Hirntumoren herstellen läßt.
Diese Frage stellte sich auch der Epidemiologe Lennart Hardell. In einem ersten Anlauf (veröffentlicht 1999) befragte er 209 Patienten, bei denen zwischen 1994 und 1996 ein Hirntumor festgestellt wurde nach ihrem Telefonierverhalten mit NMT- und GSM-Mobiltelefonen. Die Kontrollgruppe bildeten 425 gesunde Personen.
Hardell unterscheidet "Handys" (er nennt sie "cellular Phones") von anderer Technik wie Autotelefone und Telefonkoffer. Wer mit Autotelefonen (inkl. Außenantenne) oder mit Telefonkoffern telefonierte wurde von Hardell aus der Handy-Gruppe ausgeschlossen. Mit Handys telefonierten noch 78 Fälle und 161 Kontrollen, diese Fälle telefonierten in ihrem Leben bis zum Befragungszeitpunkt (so habe ich Hardells etwas schwammige Angabe jedenfalls verstanden) im Mittel 511 Stunden (Median 136 Stunden, Bereich 8 Stunden bis 9000 Stunden), die Kontrollen telefonierten im Mittel 428 Stunden (Median 136 Stunden, Bereich 8 Stunden bis 6304 Stunden.
In seiner Tabelle III schlüsselt Hardell die Handynutzer nach GSM und NMT auf, leider nicht plausibel, denn die Summen ergeben nicht die besagte 78 Fälle und 161 Kontrollen, sondern höhere Werte. Darum kümmere ich mich jetzt jedoch nicht weiter.
Plausibel ist noch, dass 38 Fälle (Kontrollen: 76) weniger als 136 Stunden telefonierten (Medianwert siehe oben) und 40 Fälle (Kontrollen: 85) mehr. Doch ab jetzt passen die Zahlen nicht mehr zusammen.
► Mit GSM telefonierten 44 Fälle (92), davon 20 (45) weniger als 88 Stunden und 24 (47) mehr.
► Mit NMT telefonierten 52 Fälle (106), davon 28 (51) weniger als 224 Stunden und 24 (54) mehr.
Die statistische Auswertung dieser Zahlen erbrachte nicht den erwarteten Risikoanstieg für Vieltelefonierer (Odds Ration OR > 1), sondern das Gegenteil: Vieltelefonierer haben paradoxerweise ein geringeres Hirntumorenrisiko. Bei NMT-Gebrauch z.B. sank das Risiko von +5 Prozent Anstieg bei Wenigtelefonierern (<224 Stunden) auf –17 Prozent bei Vieltelefonierern. Kein Wunder, denn keines der Ergebnisse erreichte statistische Signifikanz.
Langzeittelefonierer (mindestens 5 Jahre)
In einem nächsten Schritt musterte Hardell alle aus, die weniger als 5 Jahre im Besitz eines Handys waren. Danach blieben 34 Fälle (Kontrollen: 69) übrig.
► Mit GSM telefonierten jetzt nur noch 4 Fälle (12), davon 0 (6) weniger als 292 Stunden und 4 (6) mehr.
► Mit NMT telefonierten immerhin noch 31 Fälle (66), davon 17 (33) weniger als 380 Stunden und 14 (33) mehr.
Auch hier das gleiche Bild: Je mehr die Leute telefonierten desto geringer war das Risiko, einen Hirntumor zu entwickeln. Bei NMT-Gebrauch sank das Risiko von –7 Prozent für Wenigtelefonierer (<380 Stunden) auf beachtliche –32 Prozent für Vieltelefonierer. Aber: Auch diese Ergebnisse erreichten keine statistische Signifikanz.
Langzeittelefonierer (mindestens 10 Jahre)
Im letzten Schritt musterte Hardell alle aus, die weniger als 10 Jahre im Besitz eines Handys waren. Damit schieden sämtliche GSM-Teilnehmer aus. Nur noch 16 Fälle (Kontrollen: 26) blieben jetzt übrig.
► Neun Fälle (13) telefonierten mit NMT weniger als 968 Stunden und 7 (13) mehr.
Und jetzt endlich konnte Hardell einen erwarteten (vielleicht sogar erhofften) nennenswerten wenngleich irritierenden Risikoanstieg melden:
Die 9 Wenigtelefonierer unter den Fällen (<968 Stunden) hatten im Vergleich zu den 13 Kontrollen ein +32 Prozent höheres Hirntumorisiko. Die 7 Fälle, die länger telefonierten hatten dummerweise nur noch ein +6 Prozent höheres Risiko.
Klar, auch diese Ergebnisse erreichten keine statistische Signifikanz. Hardell räumte daher unumwunden ein:
In this study we did not find an overall increased risk for brain tumours associated with exposure to cellular phones. The results were similar both for the analogue and digital system. No dose-response effect could be seen or any effect of tumour induction time.
Für nicht nachvollziehbar halte ich seine Bemerkung:
It should be noted that analogue telephones have at least three times higher output power than digital phones.
Eine 3-fach höhere Leistung als Handys trifft auf Autotelefone und Telefonkoffer zu, die Hardell aber aus seiner Handy-Betrachtung ebenso ausgeklammert hat wie den Gebrauch von Freisprecheinrichtungen. Dass frühe NMT900-Analoghandys mindestens 6 W Sendeleistung hatten (3 x 2 W von GSM900), statt 1 W, dafür konnte ich keine Belege finden. Theoretisch wäre es jedoch vermutlich rechtlich zulässig gewesen Handys zu verkaufen, die mehr als 2 W/kg Teilkörper-SAR bewirken, die de-facto grenzwertsetzende EU-Ratsempfehlung 1999/519/EG kam ja erst 1999.
Meines Wissens ist Hardell der einzige Epidemiologe, der versucht hat, das Hirntumorrisiko durch die Endgeräte der Analogfunknetze vor der GSM-Ära systematisch zu untersuchen. Sein erster Anlauf 1999 ist aus meiner Sicht nicht ergiebig, die Ergebnisse irritieren mehr als dass sie Klarheit bringen. Das mag an den typischen Schwachstellen epidemiologischer Studien liegen, etwa daran, dass unzutreffende Gedächtnisangaben der befragten Teilnehmer zwangsläufig zu fehlerhaften Ergebnissen führen. Die oben von einem "Fall" genannten 9000 Stunden am Handy halte ich für so einen Erinnerungsfehler. Wenn es stimmt, dass die ersten NMT-Handys 1988 auf den Markt kamen und die Person bis 1996 damit telefonierte, dann verteilen sich die 9000 Sprechstunden auf neun Jahre oder auf etwa 2160 Arbeitstage (5-Tage-Woche, 8-Stunden-Tag, vier Wochen Jahresurlaub) oder auf gut vier Stunden pro Arbeitstag. Das ist mMn genauso unglaubwürdig wie später der Fall Marcolini, schon gar nicht in Verbindung mit den von Hardell ins Spiel gebrachten mindestens 6 W Sendeleistung, die einen damals üblichen NiCd-Handyakku ratzfatz leergesaugt hätten.
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