3.1 Erleichterungen beim Mobilfunkausbau (2023) (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 07.06.2023, 20:06 (vor 567 Tagen) @ H. Lamarr

Mit einer Änderung der Musterbauordnung stellten 2019 die Bauminister der 16 deutschen Bundesländer die Weichen für eine Erleichterung des Mobilfunkausbaus. Baden-Württemberg, Bayern und Hessen haben die Anregungen inzwischen aufgegriffen und mit Gesetzen oder Verordnungen in geltendes Recht umgesetzt. In Hessen hatten Diagnose-Funk-Vorstand Jörn Gutbier und drei weitere Mobilfunkkritiker zuvor Gelegenheit, ihre Gegenargumente anlässlich einer öffentlichen Anhörung vorzutragen. Interesse daran hatte nur ein Abgeordneter der AfD. Gutbier war alles andere als überzeugend, die anderen Kritiker versagten vollends. Ergo wurde der Gesetzentwurf am 25. Mai 2023 in zweiter Lesung gegen die Stimmen der AfD angenommen.

Der Pleite in Hessen ging eine noch größere in Baden-Württemberg voraus, dem Stammland von Diagnose-Funk. Denn dort wurden (ohne Anhörung) am 24. Mai 2023 Erleichterungen für den Mobilfunkausbau beschlossen, einstimmig, Enthaltungen oder Gegenstimmen gab es nicht. Dabei hatte sich Diagnose-Funk schon im Dezember 2022 vehement gegen die geplanten Erleichterungen in Ba-Wü ausgesprochen.

Die Anhörung in Hessen fand am 15. März 2023 vor 17 Mitgliedern des Ausschusses für Digitales und Datenschutz statt, in Vertretung der Landesregierung nahmen Staatsministerin Kristina Sinemus und Staatssekretär Patrick Burghardt teil. Die 14 Anzuhörenden wurden in drei Blöcken abgearbeitet: In Block 1 trugen zwei Kommunalverbände vor (Hessischer Städte- und Gemeindebund, Hessischer Städtetag), die BNetzA und mit Bitkom und VATM zwei Verbände der Telekommunikationsindustrie. Block 2 war den Mobilfunknetzbetreibern und Funkturmgesellschaften vorbehalten (Telekom, Telefónica, Vodafone, American Towers und Vantage Towers), Block 3 den Mobilfunkkritikern (Dietmar Hildebrand, Michaele Kundermann, Anke Vetter und Jörn Gutbier). Die Vorträge aller Anzuhörenden sowie deren Antworten auf Fragen der Abgeordneten lassen sich in diesem Dokument nachlesen (PDF, 36 Seiten). Wem das nicht genügt, kann sich in noch vor der Anhörung eingeholte schriftliche Stellungnahmen aller Art vertiefen, die der Landtag in drei Teilen anbietet (Teil 1, Teil 2, Teil 3).

Die Mobilfunkkritiker schickten im März 2023 eine Privatperson und drei Vertreter hessischer Bürgerinitiativen in den Hessischen Landtag, um den Abgeordneten dort das geplante "Mobilfunkausbaubeschleunigungsgesetz" auszureden:

► Dietmar Hildebrand (Mobilfunkkritiker ohne BI-Zugehörigkeit)
► Bürgerinitiative „Frei von 5G im Taunus“ (Michaele Kundermann)
► Bürgerinitiative „Stopp 5G – Für ein strahlungsarmes Darmstadt“ (Anke Vetter)
► Bürgerinitiative „Stopp 5G Frankfurt“ (Jörn Gutbier)

Gutbier unter fremder Flagge

Bemerkenswert ist, vom Personal der BI "Stopp 5G Frankfurt" wagte sich offensichtlich niemand in den Landtag. Für die schriftliche Stellungnahme und den Auftritt anlässlich der Anhörung suchte diese BI deshalb Ersatz im Nachbarland Baden-Württemberg und wurde bei dem Stuttgarter Verein Diagnose-Funk fündig. Dessen Vorsitzender gab sich in Hessen kurzerhand als Vertreter der Frankfurter Bürgerinitiative aus. Mutmaßlich war diese kuriose Verrenkung notwendig, um überhaupt Rederecht im Hessischen Landtag zu erhalten. Von den vier Vertretern der Mobilfunkkritiker streifte Gutbier wenigstens ansatzweise die konkret zur Diskussion gestandenen Erleichterungen für den Mobilfunkausbau in Hessen. Inhaltlich waren seine Ausführungen mMn jedoch nicht überzeugend, insbesondere wegen vieler haltloser Behauptungen, mit denen Gutbier seine hinlänglich bekannte Risikoeinschätzung als "Baubiologe" zum Besten gab. Wieso ein kommerziell vom "Risiko Mobilfunk" Profitierender überhaupt als "Anzuhörender" zugelassen werden konnte, ist aus meiner Sicht eine Fehlfunktion des Landtagsausschusses, der die Anhörung organisiert hat. Ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel aus seiner schriftlichen Stellungnahme (enthalten oben in Teil 2) zeigt, wie Gutbier versucht, die Abgeordneten einzuwickeln:

[...]
Fachkommissionen der Länder 2020 gegen Aufweichung der Bauordnung
Die Fachkommissionen für Städtebau und Bauaufsicht der Ministerkonferenz der Länder haben auf ihrer Tagung im September 2020 die jetzt in Hessen vorgeschlagene Veränderung der Verfahrensfreiheit von Mobilfunk-Antennenträgern abgelehnt. Der § 61 Abs. 1 Zif. 5 der Musterbauordnung des Bundes (MBO) entspricht bis dato der geltenden HBO.

Insbesondere die Argumente Stadtbildverschandelung durch 15 m hohe Sendeanlagen auf Gebäuden und Schwächung der kommunalen Verfahrenshoheit waren die entscheidenden Argumente gegen die Aufweichung der MBO.
[...]

Das kommt mit Spanisch vor. Schauen wir mal genauer hin.

In Gutbiers Textfragment ist kein einziger Satz zutreffend!

So tagten die Fachkommissionen Städtebau und Bauaufsicht nicht im September, sondern am 28. August 2020 in Vorbereitung der 136. Bauministerkonferenz. Dabei wurde das Papier Hinweise zur baurechtlichen Beurteilung von Mobilfunkanlagen verabschiedet (PDF, 24 Seiten), das am 25. September 2020 von der Bauministerkonferenz gebilligt wurde (Top 12). Doch von einer Ablehnung der "jetzt in Hessen vorgeschlagene[n] Veränderung der Verfahrensfreiheit von Mobilfunk-Antennenträgern" findet sich in den Vollzugshinweisen keine Spur. Gutbier hat diese Behauptung anscheinend frei erfunden. Wie auch hätten die Fachkommissionen im August 2020 etwas ablehnen können, was erst im Januar 2023 in Form eines Gesetzentwurfs in Hessen auf den Tisch kam? Ebenso vergeblich suchte ich in den Vollzugshinweisen nach Gutbiers Behauptung "Insbesondere die Argumente Stadtbildverschandelung durch 15 m hohe Sendeanlagen ...". Gutbier muss diese "Argumente" in seiner Kristallkugel gesehen haben, in dem Papier sind sie jedenfalls weder sinngemäß geschweige denn wörtlich zu finden, was bei Vollzugshinweisen auch nicht zu erwarten ist. Falsch ist zu guter Letzt auch noch Gutbiers Feststellung, "§ 61 Abs. 1 Zif. 5 der Musterbauordnung des Bundes (MBO) entspricht bis dato der geltenden HBO." Denn schon seit 11. Juni 2020 besagt die HBO mit § 63, baugenehmigungsfrei sind Antennen oder Masten ...

bis 15 m Gesamthöhe, auf Gebäuden gemessen ab dem Schnittpunkt der Anlage mit der Dachhaut, und bei Parabolantennen mit Reflektordurchmesser bis 1,20 m, bei über 10 m Gesamthöhe unter dem Vorbehalt des Abschnitts V Nr. 4

Der genannte Vorbehalt ist im Kontext dieses Postings ohne Belang, er betrifft lediglich eine Prüfung der Statik.

Vergleicht man § 63 der HBO mit § 61 der momentan aktuellen MBO vom September 2022 wird deutlich: Nein, Herr Gutbier irrt, § 61 der MBO entspricht nicht der geltenden HBO. Denn die MBO stellt auf Gebäuden maximal 10 m aus einem Dach ragende Funkmasten genehmigungsfrei, die mutigen Hessen aber dulden in ihrem Bundesland seit Juni 2020 bis zu 15 m hoch aus Dächern aufragende Funkmasten.

In Anbetracht von Jörn Gutbiers "eindrucksvoller" Trefferquote in nur einem kurzen Textfragment wundert es nicht, dass seine Ausführungen an dem am 25. Mai 2023 verabschiedeten "Mobilfunkausbaubeschleunigungsgesetz" in Hessen spurlos vorüber gingen. Möglicherweise glaubte Gutbier fahrlässig, er könnte Einwände von 2020 rd. drei Jahre später noch einmal an den Mann bringen.

Die übrigen drei Vertreter der Mobilfunkkritiker

Die Anhörung der 14 Anzuhörenden ergab (schriftliche Stellungnahmen gab es mehr), mit Ausnahme der vier Mobilfunkkritiker brachten alle den beiden Gesetzentwürfen der Landesregierung und der SPD (dieser wurde später vom Plenum des Landtags abgelehnt) grundsätzlich Zustimmung entgegen. Äußerte sich Gutbier wenigstens stellenweise noch mit Bezug auf die Gesetzentwürfe, machten es sich Hildebrand, Kundermann und Vetter einfach. Sie ergingen sich in pauschaler Mobilfunkkritik. Die aber ist seit Jahren bekannt, die Ausführungen der drei waren daher vor allem eines: ermüdend. Ich sehe daher keinen Mehrwert, näher auf diese Einlassungen einzugehen.

Um öffentliches Interesse vorzugaukeln ist es unter Mobilfunkkritikern seit langem Sitte, dass deren Referenten zu ihren Auftritten einige ihrer "Orks" mitbringen. So war es auch bei der Anhörung in Hessen. Die Vorträge der Referenten von Block 1 und Block 2 wurden auf der Besuchertribüne noch teilnahmslos hingenommen. Dann trug Hildebrand vor und erntete prompt vereinzelte Beifallsbekundungen aus dem Plenarsaal (mutmaßlich von seinen AfD-Parteigenossen) und von der Besuchertribüne. Kaya Kinkel, Leiter der Anhörung, ermahnte: "Wir befinden uns zwar in öffentlicher Sitzung, dennoch ist kein Raum für Applaus. Ich bitte auch auf der Besuchertribüne um Zurückhaltung." Aber: Beim folgenden Auftritt von Kundermann gab es abermals Beifallsbekundungen und Kinkel musste erneut ermahnen. Erst dann war Ruhe. Vetter und Gutbier mussten ohne Applaus auskommen.

Fortsetzung ...

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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Landtag, Baurecht, Anhörung, Irrtum, Misserfolg, Trick, Gutbier, Etikettenschwindel, Klüngel, Darmstadt, Netzausbau, AfD, Kundermann, Frankfurt, Taunus, Hildebrand, Vetter


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