Europäische Union: EWSA/EESC schlägt Konkurrenz zu Icnirp vor (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 22.05.2022, 15:37 (vor 698 Tagen)

Im Oktober 2021 hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss seine Stellungnahme "Die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen des 5G-Ökosystems" verabschiedet. Darin werden sowohl rationale als auch irrationale Ansichten des EWSA erkennbar. Wer für das Irrationale der Stellungnahme verantwortlich ist und ob das Papier überhaupt eine nennenswerte Wirkung hat, lässt sich gegenwärtig nicht ausmachen. Offensichtliche Fehler in der Stellungnahme deuten jedoch darauf hin, aufmerksam gelesen hat kein einziges Ausschussmitglied das Papier.

Veröffentlicht wurde die Initiativstellungnahme des EWSA im März 2022 im Amtsblatt der EU unter der Kennnummer 2022/C 105/06. Initiativstellungnahmen des EWSA kommen zustande, wenn der Ausschuss nicht auf Anforderung anderer EU-Gremien hin tätig wird (z.B. der EU-Kommission), sondern aus eigenem Antrieb heraus handelt. Im konkreten Fall geht die Stellungnahme auf die Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft zurück, Berichterstatter war der Rumäne Dumitru Fornea, er gehört im EWSA der Gruppe der Arbeitnehmer an.

"Elektrosensible" und Konkurrenz für Icnirp

Von den 15 Empfehlungen der Initiativstellungnahme geben aus meiner Sicht besonders die sechste und siebte zu denken:

1.6. Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU ein unabhängiges europäisches Gremium mit modernen Verfahren entsprechend den aktuellen technischen Rahmenbedingungen und einem multidisziplinären Ansatz benötigt, um Leitlinien zum Schutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte vor elektromagnetischer Strahlung festzulegen.

Mit dieser Empfehlung will der EWSA offensichtlich die Deutungshoheit von Icnirp angreifen. Der Ausschuss scheint der Ansicht zu sein, die Icnirp-Empfehlungen schützen Bevölkerung und Arbeitnehmer der EU nicht hinreichend vor elektromagnetischer Strahlung. Wie er die "unabhängigen" Experten für das neu zu schaffende Gremium aus dem Hut zaubern möchte, verrät der Ausschuss nicht. Bekanntlich wachsen diese nicht in beliebig hoher Anzahl auf Bäumen.

Etwas weiter unten in der Stellungnahme findet der EWSA allerdings freundliche Worte über den Münchener Verein: "ICNIRP bemüht sich sehr, ihre wissenschaftlichen Methoden für die Festlegung der Schutzleitlinien transparent zu machen; allerdings erkennt sie nur die thermischen Auswirkungen der elektromagnetischen Strahlung als potenziell schädlich an", heißt es im Abschnitt 4 ("Zweifel an den ICNIRP-Standards").

1.7. Der EWSA empfiehlt, alle Sendestationen und die von ihnen genutzten Frequenzen zu erfassen und diese Information zu veröffentlichen, um eine bessere Kontrolle in den Gebieten und den Schutz der Interessen der Bürger und insbesondere der Risikogruppen (Kinder, Schwangere, chronisch kranke Personen, ältere Menschen, Menschen die unter Elektrosensibilität leiden) zu gewährleisten. Außerdem müssen die Gesundheit und die Sicherheit der Arbeitnehmer berücksichtigt werden.

Der EWSA ist augenscheinlich noch immer der Ansicht, "Elektrosensibilität" sei eine physische Krankheit und keine Phobie. Wie er zu dieser wissenschaftlich grenzwertigen Einschätzung kommt ist unklar und es drängt sich der Verdacht auf, organisierte Mobilfunkgegner nehmen über eine unbekannte Hintertür Einfluss auf den Ausschuss. Dazu genügen, wie die Erfahrung zeigt, zuweilen nur wenige oder sogar nur eine einzige Person an maßgebender Stelle (Beispiel).

Abwegig ist aus meiner Sicht auch das Vorhaben, die von Funkmasten genutzten Trägerfrequenzen in den Mittelpunkt einer Offenlegungskampagne zu stellen. So als ob Trägerfrequenzen, die ohnehin indirekt an der Bauform von Funkantennen erkennbar sind, ein entscheidender Risikofaktor wären. Mutmaßlich hat sich der EWSA bei diesem unsinnigen Vorschlag von der öffentlichen Diskussion leiten lassen, dass die gesundheitlichen Auswirkungen von Trägerfrequenzen über ca. 20 GHz weniger gut erforscht sind als die tieferer Frequenzen. Die Frequenz einer EMF-Immission ist gesundheitlich jedoch belanglos, entscheidend ist bei hohen und tiefen Frequenzen der Wirkmechanismus und die Stärke der Feldeinwirkung. Funkfelder erreichen mit steigender Trägerfrequenz innere Organe zunehmend weniger, so dass sich das Augenmerk der Forschung auf die Haut und die Augen richtet. Dies primär aber nicht wegen der Frequenz, sondern wegen der zur Distanzüberbrückung erforderlichen Sendeleistung, die mit steigender Frequenz ebenfalls anwächst. Dies könnte zu riskanten Situationen führen, wenn Menschen sich in unmittelbare Nähe solcher Sender aufhalten. Dieses Risiko beherrschbar zu machen ist Aufgabe der Wissenschaft, wobei die Sender nicht zwingend Dachstandorte haben müssen, sie können sich im Miniaturformat auch in Wohnzimmern befinden, um dort breitbandige Datenströme von einer Ecke drahtlos in eine andere zu übertragen. Beispielsweise das hochauflösende TV-Signal einer via Glasfaser gespeisten TV-Box an einen irgendwo im Raum montierten Beamer. Dann muss gewährleistet sein, dass z.B. auch ein Kleinkind, dass die TV-Box aus 20 Zentimeter Abstand neugierig betrachtet, keinen Schaden nimmt.

Wasser auf die Mühlen von Mobilfunkgegnern

Nicht alle Empfehlungen der EWSA-Stellungnahme sind so realitätsentrückt wie die oben kritisierten, wobei die Formulierungen stellenweise so abstrakt sind, dass sich Interpretationsspielräume öffnen. Das ist aber nicht der Knackpunkt dieses Papiers. Den sehe ich eher darin, dass die hinlänglich bekannten üblichen Verdächtigen der Anti-Mobilfunk-Szene sich die Rosinen aus der Stellungnahme herauspicken und versuchen werden, diese mit Verweis auf die Autorität des EWSA wichtiger zu machen als sie sind, um letztendlich die Bevölkerung zu verunsichern.

Über den Werdegang der Stellungnahme ist im Amtsblatt der EU nichts zu erfahren, auch nicht, wer genau die Initiative dazu ergriffen hat. In der politischen Mobilfunkdebatte scheinen Osteuropäer jedoch aktiver zu sein als ihre Kollegen im Westen. So spielt bei der noch immer ungelösten Stoa-Geschichte ein Bulgare eine wichtige Rolle, bei der EWSA-Stellungnahme ein Rumäne. Das kann Zufall sein, oder richtungsweisend. In jüngster Zeit mehren sich meiner Beobachtung zufolge jedenfalls mobilfunkkritische Stimmen im Speckgürtel der EU-Bürokratie. Dies begann 2020 mit einem fragwürdigen Papier des wissenschaftlichen Dienstes am EU-Parlament, dem 2021 im Auftrag von Stoa die 5G-Gesundheitsreview einer überzeugten Mobilfunkkritikerin folgte. Etwa ein halbes Jahr später kam der EWSA mit seiner Stellungnahme.

Fakt ist: Die Stellungnahme wurde zuerst am 7. Oktober 2021 von der Fachgruppe abgenommen, dann, nur wenige Tage später am 20. Oktober auch vom Plenum des Ausschusses mit 210 Zustimmungen, zwei Ablehnungen und 19 Enthaltungen. Ob die Stellungnahme anlässlich der Verabschiedung nur abgenickt oder kontrovers diskutiert wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.

Offensichtliche Fehler in der Stellungnahme

Nach Fehlern gesucht habe ich in der Stellungnahme nicht. Wenn ich doch welche gefunden habe, ist dies das Ergebnis einer oberflächlichen Sichtung des Textes. Es kann also gut sein, dass sich der EWSA noch anderweitig Schnitzer geleistet hat.

Unter Ziffer 4.16 behauptet der Ausschuss, die WHO habe "[...] im Zusammenhang mit der Einführung von 5G-Netzen im Jahr 2022 eine neue Bewertung der Risiken elektromagnetischer Felder für das Frequenzspektrum (zwischen 3 kHz und 3 000 GHz) angekündigt". Als Quelle wird benannt: "Gemäß der Vollzugsordnung für den Funkdienst der Internationalen Fernmeldeunion (ITU)". Ich behaupte: Der EWSA hat bei der Obergrenze des Frequenzspektrums eine Null zuviel gesetzt. Denn a) hat die Quelle mit der WHO nichts zu tun und b) ist im Entwurf der neuen WHO-Bewertung an keiner Stelle von 3'000 GHz die Rede, häufig jedoch von 300 GHz.

Unter Ziffer 4.22 heißt es: "In der vom Europäischen Parlament [19] gemäß den Empfehlungen der Resolution 1815 des Europarates von 2011 durchgeführten STOA-Studie werden die Einhaltung des Vorsorgeprinzips, die erneute Prüfung der von der ICNIRP vorgeschlagenen Grenzwerte sowie technische und administrative Maßnahmen zur Minderung der Folgen von elektromagnetischer Verschmutzung aufgrund der Telekommunikation unterstützt."

Nanu, Stoa hat anlässlich der Resolution 1815 des Europarats eine Studie durchgeführt? Trotz hingebungsvoller Beschäftigung mit der Resolution nie davon gehört. Konnte ich auch nicht, da es eine solche Stoa-Studie gar nicht gibt! Unter der Quellenangabe [19] findet sich zwar eine Studie, doch dieses Papier ist keine "Stoa-Studie", sondern eine 2001 von dem Mobilfunkkritiker Gerard Hyland für Stoa verfasste Abhandlung (PDF, 35 Seiten, englisch), die mit der Resolution nicht das Geringste zu tun hat. Ähnlich wie viele Mobilfunkgegner wertet der EWSA die Stimme eines einzelnen Mobilfunkkritikers zu einer "Stoa-Studie" auf, nur weil der Kopf der Abhandlung dies suggeriert. Hätte man wenigstens bis zum Fuß der Seite 2 den Inhalt auch gelesen, wäre man über die Distanzierung von Stoa gegenüber dem Inhalt informiert gewesen.

Die gefundenen Fehler in dem EWSA-Papier sind nicht dramatisch. Bemerkenswert sind sie mMn deshalb, weil sie die Freigabeprozedur in der Fachgruppe und im Plenum unbeschadet überstanden haben. Dies lässt Rückschlüsse zu, wie sorgfältig sich die Mitglieder des EWSA mit dem Papier, das sie mit überwältigender Mehrheit abgenickten, inhaltlich auseinander gesetzt haben.

Steckbrief des EWSA

Der EWSA ist ein beratendes Gremium der EU, in dem soziale und wirtschaftliche Interessenvertreter die EU-Organe (Rat, Kommission und Europäisches Parlament) unterstützen und Vorschläge zu Gesetzesinitiativen einbringen (Art. 13 EUV, Art. 300-304 AEUV). Im EWSA sind 350 Mitglieder aus den (nach dem Austritt Großbritanniens) 27 EU-Staaten vertreten; Deutschland entsendet 24 Mitglieder (Stand: 2019). Der EWSA trifft sich jährlich zu neun Plenartagungen und beschließt etwa 150 Stellungnahmen. Die Mitglieder werden von den EU-Staaten für fünf Jahre ernannt; sie teilen sich nach ihrer beruflichen Herkunft in die drei Gruppen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und »verschiedene Interessen«.

Die zuletzt genannte Gruppe ist am wenigsten einheitlich, in ihr sind u.a. Verbraucherschutzverbände, Familienorganisationen und Bauernverbände, aber auch klein- und mittelständische Unternehmer vertreten. Der EWSA ist intern nach Fachgruppen gegliedert (z.B. Binnenmarkt, Landwirtschaft). Die insgesamt wenig homogene Zusammensetzung des EWSA erschwert mitunter die Erarbeitung von gemeinsamen Positionen. Der EWSA wurde bereits mit den Römischen Verträgen (1957) eingeführt, seine institutionelle Struktur ist u. a. angelehnt am Modell entsprechender Ausschüsse, wie sie in den EG-Mitgliedstaaten existieren. weiter ...

Hintergrund
EWSA/EESC: "Elektrosensibilität" soll erforscht werden

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Lobbyarbeit, Einflussnahme, Hyland, EWSA, Resolution 1815, EESC, Rivasi, Organisationsstruktur, STOA-Studie, Fornea


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