Quecksilber-Vergiftung: Kinder spielten mit 4 kg (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 22.08.2012, 21:10 (vor 4281 Tagen) @ H. Lamarr

Spurensuche: Quecksilbervergiftungen haben einen ICD-Diagnosecode, sie sollten sich daher statistisch verfolgen lassen, zumal derartige Vergiftungen meldepflichtig sind. Der ICD-Code lautet: T56.1

Damit bin ich mit meinem Latein aber schon fast wieder am Ende, denn es ist mir nicht gelungen, einen zeitlichen Verlauf der T56.1-Diagnosen, sagen wir mal ab 1976 (damals noch ICD 9) zu finden.

Aber: So ganz ergebnislos war die Mühe nicht. Die Toxologische Abteilung der II. Medizinischen Klinik der Technischen Universität München hatte im Jahr 2010 mit 1308 Vergiftungsfällen zu tun. Die Top-Liste der Vergiftungen wird angeführt von Alkohol und Drogen, zusammen sind dies rund 600 Fälle. Dann geht es weiter in der Liste bis hin zu Fallzahlen kleiner 5. Quecksilbervergiftung taucht auch dort nicht auf.

Ein guter Geist hat mir den Tipp gegeben, es doch einmal beim BfR (Bundesinstitut für Risikobewertung) zu versuchen, das sei nämlich sowohl für ESLs als auch für Quecksilber zuständig.

Der Tipp war gut, denn dort gibt es eine Sammlung "Ärztlicher Mitteilungen bei Vergiftungen" beginnend im Jahr 1990, damals wurde die Meldepflicht für Vergiftungen eingeführt.

Nach Murphy war es dann ausgerechnet die letzte dieser Mitteilungen (2010), in der ich die gesuchte Anzahl von Vergiftungsfällen fand:

Von 1990 bis 2010 wurden 63'817 Vergiftungsfälle gemeldet. Davon waren sechs (6) Fälle Vergiftungen durch Quecksilber (Thermometer, ESLs werden nicht genannt). Dreimal waren Kinder betroffen, dreimal Erwachsene, wobei von den drei Erwachsenenfällen zwei während der Arbeit passierten. Alle sechs Fälle waren leicht und nicht mittel oder schwer. Einer anderen Mitteilung ist zu entnehmen, dass es im Zeitraum von 1990 bis 1998 zwei der drei Kinder- und keinen Erwachsenenfall gegeben hat.

Diese Fallzahlen kommen mir ungewöhnlich niedrig vor, denn das Tox-Zentrum (Schweiz) will in 35 Jahren über 5000 Fälle mit zerbrochenen Quecksilber-Thermometern registriert haben. Die Schweiz hat ungefähr 1/10 der Bevölkerung Deutschlands - damit ist klar, mit den Zahlen stimmt etwas nicht. Aber was? Übrigens: Seit 2009 ist der Verkauf von Quecksilber-Thermometern in der EU verboten.

Eine Fallschilderung aus der Zeit 1990 bis 1995 zeigt, dass Quecksilber nicht auf jeden gleich wirkt

Die Kinder (Geschwister in einer debilen Familie) fanden eine Flasche mit ca. 300 ml Quecksilber auf dem Gelände eines stillgelegten Betriebes. Beim Spielen verteilten sie das Quecksilber hauptsächlich in zwei Kinderzimmern.

Symptome/Verlauf
Zunächst stationäre Einweisung. Nach Beobachtung von Familienbetreuern entwickelten drei der geistig behinderten Kinder etwa 4-6 Wochen nach dem Erstkontakt innerhalb von 2-3 Wochen ein unerklärbares Muskelzittern. Nach intensiver differentialdiagnostischer Abklärung konnte die Diagnose „Quecksilbervergiftung" erst mit dem Ergebnis der Blutuntersuchungen 18 Tage später gestellt werden.
Sie führte dann auch zu Quecksilberbestimmungen bei den symptomlosen Kindern. Ohne Korrelation zur Schwere der Symptomatik wurden bei allen Kindern Blutplasmakonzentrationen bis ca. 1.500 μg/l und Urinkonzentrationen bis ca. 2.700 μg/l gefunden. [...]

Hinweise
Im Vergleich zu Konzentrationsangaben in der Literatur und arbeitsmedizinischen Erfahrungen entwickelten die drei Kinder diskrete neurologische Symptome wie feinschlägiges Muskelzittern, ataktische Bewegungsstörungen und Schwächezustände.
Drei Kinder waren trotz exzessiv erhöhter Konzentrationen absolut symptomlos(!). Intensiver und langandauernder Hautkontakt beim Spielen mit Quecksilber wie auch die Inhalation bei Raumtemperatur können offensichtlich zu einer relevanten Resorption von metallischem Quecksilber führen.

Das ist einfach unglaublich! Quecksilber hat ein spezifisches Gewicht von 13,5 g/cm^3, damit lässt sich ausrechnen, die Kinder haben mit sage und schreibe 4050 Gramm Quecksilber gespielt! In einer ESL befinden sich maximal 5 mg Quecksilber, also 5 Tausendstel Gramm. Das bedeutet: Das Kind (Max) aus "Bulb Fiction" hat 810-Tausend-mal weniger Quecksilber abbekommen, als die drei Kinder der debilen Familie! Dennoch konnten auch die drei Kinder nach 6-wöchiger Behandlung aus dem Krankenhaus entlassen werden.

Eine 5-mg-Quecksilberphobie von Erwachsenen scheint mir angesichts solcher Werte genauso fragwürdig wie mir es die baubiologischen EMF-Vorsorgewerte schon lange sind. Jetzt ist mir auch klar, warum die "Experten" in "Giftiges Licht" so konsequent von der Gefahr und nicht vom Risiko geredet haben, das Risiko, von 5 mg Quecksilber einen Schaden davon zu tragen, es muss sehr klein sein. Und damit gewinnt auch die Bemerkung der Mutter des kleinen Max Bedeutung, sie äußerte in einem der Interviews Zweifel, ob es überhaupt die zu Bruch gegangene ESL war, die bei ihrem Sohn die Symptome hervorgerufen hat.


[Editiert am 22.8.12 um 21:30 Uhr: 5 µg in 5 mg berichtigt, inklusive Auswirkung auf Berechnung]

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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