iPhone 12: ANFR erwischt Apple bei Grenzwertüberschreitung (Technik)
Der Medienzirkus ist um eine Attraktion reicher: Drei Jahre nach Markteinführung des iPhone 12 lässt die staatliche französische Funknetzagentur ANFR wissen, das Smartphone verstrahlt Arme und Beine von Nutzern über das erlaubte Maß hinaus. Die ANFR droht deshalb Apple mit einer Rückrufaktion. Doch bei genauerer Betrachtung des Vorfalls entpuppt sich das Gezeter als Sturm im Wasserglas.
Hierzulande berichtete am 13. September 2023 zuerst der Tagesspiegel über Apples Frevel. Noch am selben Tag erbeutete ein emsiger Mobilfunkgegner die Nachricht und tratschte sie in einem Schweizer Forum an seine Gesinnungsfreunde weiter. Dann blubberten etliche andere Sumpfblasen hoch. Doch was ist dran an dem vermeintlichen Skandal?
Apples Pech, prominent zu sein
Zunächst einmal sei festgestellt, Grenzwertüberschreitungen bei Mobiltelefonen sind keineswegs so selten wie Eisbären in der Sahara. Jahr für Jahr erwischt die ANFR bei ihren Stichprobenuntersuchungen Hersteller, deren Mobiltelefone die Grenzwerte nicht einhalten. Stammleser des IZgMF-Forums wissen das (Quelle 1, Quelle 2, Quelle 3). Vor drei Jahren erwischten die Franzosen auch den letzten europäischen Hersteller, der in Deutschland Android-Mobiltelefone produziert.
Üblicherweise wird die Grenzwertüberschreitung eines Mobiltelefons vom Hersteller mit einem Firmware-Update beseitigt, das wie jedes andere Firmware-Update per Funk an betroffene Geräte verteilt wird. Fällt eine Nachmessung der SAR-Werte dann positiv aus, ist der Störfall auch schon erledigt.
Bislang gingen Verfahren der ANFR gegen Grenzwertsünder ohne Mitwirkung der Medien völlig geräuschlos über die Bühne. Das liegt wahrscheinlich daran, dass nicht Apple ins Visier der Marktwächter geriet, sondern nur weniger prestigeträchtige Hersteller aus Fernost. Der Fehltritt von Apple unterscheidet sich mit nichts von dem anderer Sünder, allein der Name des Herstellers ließ diesmal aufhorchen. Das war auch 2016 schon einmal so, als Apple sich mit dem iPhone 7 selbst ins Gerede brachte.
Alles eine Frage des Bezugswerts
Die französische Funknetzagentur hat zu Apples Verstoß drei französischsprachige Pressemitteilungen veröffentlicht, die erste und zweite am 12. September, die dritte am 14. September. Darin stellt die Behörde wiederholt fest, das iPhone 12 bewirke in den Gliedmaßen von Nutzern einen unzulässig hohen Energieeintrag von 5,74 W/kg, der zulässige SAR-Grenzwert von 4 W/kg (für Gliedmaßen) sei damit überschritten.
In der dritten Pressemitteilung heißt es jedoch einlenkend, die festgestellte Nichtkonformität rechtfertige keinen sofortigen Rückruf. Apple müsse jedoch dafür sorgen, dass das iPhone 12 sehr bald den überschrittenen SAR-Grenzwert einhält.
Ist das gegenüber Betroffenen verantwortungsvoll gehandelt, auf einen sofortigen Rückruf zu verzichten? Ja, aus einer ganzen Reihe von Gründen:
► SAR-Werte werden stets bei maximaler Sendeleistung eines Mobiltelefons ermittelt. Bei der heutigen Netzdichte wird dieser Maximalwert seltener erreicht als früher.
► Der von der Überschreitung betroffene SAR-Wert ist nicht der für Kopf und Rumpf geltende, sondern der für die Gliedmaßen. Bislang gibt es keinerlei Hinweise, iPhone-12-Nutzer hätten an Händen, Armen, Beinen oder Füßen irgendwelche Absonderlichkeiten entdeckt, die sie in Zusammenhang mit dem Smartphone sehen.
Entscheidend aber ist ein dritter Grund: Wenn ein Energieeintrag von 5,74 W/kg in die Gliedmaßen den zulässigen Grenzwert überschreitet, so trifft dies nur dann zu, wenn dem Sachverhalt die Grenzwerte der Allgemeinbevölkerung (im konkreten Fall 4 W/kg) zugrunde liegen. Doch es gibt zusätzlich Grenzwerte für beruflich genutzte Funktechnik, und diese Grenzwerte sind deutlich höher als die für die Allgemeinbevölkerung. So darf beruflich genutzte Funktechnik, dazu zählen alle Funktelefone der Blaulichtorganisationen (Polizei, Feuerwehr, Rettungswesen ...) nicht bloß 4 W elektrische Energie pro Kilogramm Gewebemasse in Gliedmaßen eintragen, sondern sage und schreibe 20 W/kg! Das ist um Faktor 5 mehr als bei der Allgemeinbevölkerung und dieser Faktor gilt auch für die Ganzkörper-SAR (0,4 W/kg statt 0,08 W/kg) sowie für die für Kopf und Rumpf zulässige SAR (10 W/kg statt 2 W/kg).
Unter diesem Blickwinkel betrachtet ist die Grenzwertüberschreitung des iPhone 12 völlig belanglos, weil weit unter dem Grenzwert für berufliche Nutzung. Eine kurzzeitige Duldung der Grenzwertüberschreitung für die Allgemeinbevölkerung durch die ANFR ist damit nachvollziehbar begründet.
Wie ich soeben feststellen durfte, sind die zulässigen SAR-Grenzwerte für die Allgemeinbevölkerung im Internet mühelos an vielen Stellen zu finden. Nicht so die SAR-Grenzwerte bei beruflicher Nutzung von Funktechnik. Möglicherweise liegt es an deren stiefmütterlicher Behandlung, dass sie im "iPhone-12-Skandal" von keiner Seite öffentlich thematisiert wurden. Eine belastbare Quelle, die ich nach längerer Suche schließlich doch noch gefunden habe, ist dafür über jeden Zweifel erhaben (Richtlinie 2013/35/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013). Die Grenzwerte finden sich dort in Tabelle A1 des Anhangs III.
Was unterscheidet berufliche Nutzung von der Allgemeinbevölkerung?
Warum aber darf beruflich genutzte Funktechnik die Nutzer überhaupt stärker "verstrahlen"? Auch dafür gibt es mehrere gute Gründe:
► Geschieht die EMF-Befeldung z.B. in Produktionshallen, herrschen dort gut bekannte Rahmenbedingungen, die eine genau Expositionsabschätzung befeldeter Personen zulassen. Privatpersonen können dagegen ungehindert umherstreifen und sind dabei weitgehend unbekannten EMF-Emissionen ausgesetzt.
► In der Allgemeinbevölkerung gibt es besonders schutzwürdige Personenkreise (Alte, Kranke, Kinder), die im Berufsleben zumindest hierzulande nicht anzutreffen sind.
► Arbeitszeiten, Sonn- und Feiertage begrenzen die Aufenthaltsdauer von Arbeitnehmern und damit deren maximale Befeldungsdauer. Wer hingegen neben einem Standort für Rundfunk, TV oder Mobilfunk wohnt, kann schlimmstenfalls rund um die Uhr befeldet werden.
Warum deckt die ANFR den "Skandal" erst jetzt auf?
Üblicherweise benennt die ANFR einen Grenzwertsünder sehr genau, damit keine Missverständnisse entstehen können. Beim iPhone 12 aber gibt sich die Behörde schwammig und spricht vom iPhone 12 so, als gäbe es davon nur ein Modell. Tatsächlich gibt es jedoch vier Bauvarianten:
► iPhone 12 Mini 5G (A2399)
► iPhone 12 5G (A2403)
► iPhone 12 Pro (A2407)
► iPhone 12 Pro Max (A2411 - MGD83F/A)
Welche betroffen sind ist unklar.
Noch seltsamer: Alle vier Bauvarianten des iPhone 12 hat die ANFR bereits im Juni und im November 2021 auf Einhaltung der SAR-Werte prüfen lassen. Dem iPhone 12 Pro und dem Pro Max erteilte die Behörde ihren Segen, den beiden anderen nicht. Was jedoch nicht zwingend bedeutet, die Modelle A2399 und A2403 wären nicht grenzwertkonform, denn die ANFR lässt nur wissen, die Bewertung dieser beiden Varianten sei "in Bearbeitung".
Wer das selbst prüfen möchte, kann dies mit dieser Tabelle der ANFR online tun. Besser ist es jedoch, sich die Tabelle als Datei zu angeln und selbst mit einer Tabellenkalkulation auszuwerten. Warum besser? Dies ist hier erklärt.
Meine Erwartungen an die Selbstauswertung wurden allerdings enttäuscht. Erwartet hatte ich, in der Spalte "das_tronc_au_contact", das ist die Spalte für SAR-Werte bei direktem Körperkontakt (0 mm Messabstand, weil das Smartphone in der Hand gehalten wird) den Wert 5,74 W/kg zu finden. Dem ist aber nicht so. Bei allen vier iPhone-12-Modellen fehlen in dieser Spalte die Einträge. Genannte andere SAR-Werte sind unauffällig. Das muss nun nicht gleich als Verschwörung gedeutet werden, denn es könnte sein, die ANFR hat einen heißen Tipp bekommen und die iPhones der Serie 12 dieses Jahr noch einmal prüfen lassen, wobei die Ergebnisse noch nicht in die Tabelle eingepflegt wurden. Ergo heißt es abwarten und Tee trinken. Der "Skandal" wird so schnell in der Versenkung verschwinden wie er hochgekocht wurde, und dann kann man ja mal schauen, wie sich die Tabelle verändert hat ...
[Admin: Link zur SAR-Wert-Tabelle der ANFR berichtigt am 18.09.2023, 16:45 Uhr]
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –