Finnischer Ärzteverband hält De-Exposition eher für schädlich (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 24.04.2022, 15:40 (vor 898 Tagen)

Praktisch alle "Elektrosensiblen" betrachten De-Exposition, also das Vermeiden von Exposition, als den Königsweg, um aus der Bredouille zu kommen. Manche Betroffene ziehen sich deshalb in den Wald zurück, in Keller oder Berghöhlen, andere schirmen sich zur Freude von Anbietern mit teuren Baldachinen über ihrem Schlafplatz gegen EMF, pinseln teure Schirmfarbe auf Wände, schwören auf teure Schirmvorhänge an Fenstern oder wickeln sich in preisgünstige metallische Rettungsdecken ein. Der größte finnische Ärzteverband hält alle diese Maßnahmen kurzfristig für hilfreich, langfristig jedoch für schädlich.

In einem Merkblatt (Stand: 2016) äußert sich der finnische Ärzteverband Duodecim, er vertritt etwa 90 Prozent der finnischen Ärzte, über Umweltsensibilität, wozu auch Elektrosensibilität zählt. Die folgende Deutsch-Übersetzung des Merkblatts macht deutlich, Duodecim vertritt evidenzbasierte und keine pseudowissenschaftlichen Standpunkte. Weiterführende Links des Originals habe ich in der Übersetzung weggelassen.

► Unter idiopathischer Umweltintoleranz (IEI) versteht man Erkrankungen, bei denen Patienten eine Reihe von Symptomen in Umgebungen erfahren, die bei der Mehrheit der Menschen keine Symptome hervorrufen und die sich nicht durch bekannte biomedizinische Mechanismen erklären lassen. Typischerweise treten die Symptome in mehreren Organsystemen auf.

► Das Symptommuster kann im Grunde mit jedem Umweltfaktor in Verbindung gebracht werden. Gerüche, Chemikalien und elektromagnetische Felder sind häufige Auslöser von Symptomen und werden je nach Auslöser als spezifische Empfindlichkeiten bezeichnet (Geruchsempfindlichkeit, multichemische Empfindlichkeit, Elektroempfindlichkeit). Ein einzelner Patient hat in aller Regel mehrere Arten von Empfindlichkeiten.

► Es sind keine Labordaten oder sonstigen Messungen zur Beurteilung der Patienten verfügbar.

► Es gibt mehrere, manchmal widersprüchliche Definitionen für Umweltempfindlichkeiten. Die aktuellen Definitionen basieren auf der Definition der Konsenskonferenz von 1996 für Umweltsensibilität.

► Leichte Geruchsempfindlichkeit ist weit verbreitet. Daher wurden die Kriterien für Umweltsensibilität um erhebliche Beeinträchtigungen des Lebensstils oder der Körperfunktion sowie um Symptome des zentralen Nervensystems erweitert.

► Studien deuten darauf hin, dass die Empfindlichkeit gegenüber Umwelteinflüssen bei weniger als 1 % der Bevölkerung mit erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen verbunden ist, je nachdem, welche Definition von Umweltempfindlichkeit verwendet wird. Die Krankheit tritt häufiger bei Frauen auf.

► Die Empfindlichkeit weitet sich häufig auf andere Umweltfaktoren aus (Gerüche, Nahrungsmittel, Geräusche, Elektrizität).

► In der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) wird der Zustand nicht als Krankheit eingestuft. Im Jahr 2015 wurde in der finnischen ICD-10-Klassifikation die Unterkategorie R68.81 hinzugefügt (Anhaltende oder wiederkehrende abnorme Empfindlichkeit gegenüber normalen Umweltfaktoren).

► Es gibt viele Faktoren, die zum Ausbruch der Symptome beitragen können.

► Es fehlen nach wie vor Beweise für direkte biophysikalisch-chemische Wirkmechanismen aufgrund von Exposition oder von Genen.

► Es gibt erste Hinweise auf eine Sensibilisierung des zentralen Nervensystems, was derzeit der am besten untersuchte Mechanismus ist.

► Bei Expositionsstudien war die Kenntnis der Exposition ausschlaggebend für das Auftreten von Symptomen, nicht die tatsächliche Exposition.

► Die Aktivierung der körpereigenen Abwehrsysteme, wie Stressreaktionen des autonomen Nervensystems, immunologische Reaktionen und Sensibilisierung des limbischen Systems des Gehirns, wurden bei der Symptomatik beobachtet.

► Es gibt keine wirksamen evidenzbasierten Behandlungen für das Symptom oder den Zustand.

► Es gibt vielversprechende Ergebnisse von Behandlungen, die darauf abzielen, das Verhalten und die Interpretation der Schädlichkeit oder Selbsttoleranz von Umweltfaktoren zu beeinflussen.

► Im Falle einer Sensibilisierung des zentralen Nervensystems auf einen als gefährlich empfundenen Umweltfaktor kann das Vermeiden kurzfristig Erleichterung verschaffen. Dies aber kann die Einschätzung der Gefahr, die von einer Exposition ausgeht, verstärken, wodurch die Reaktionen verstärkt werden und zu einer Verfestigung oder sogar Verschlimmerung der Symptome führen können.

► Die Patienten haben häufiger Allergien, Asthma, Depressionen, Angstzustände und somatoforme Störungen, die es zu berücksichtigen und zu diagnostizieren gilt.

► Der Schwerpunkt der Behandlung muss auf dem Erhalt der Funktions- und Leistungsfähigkeit liegen. Bei der Patientenaufnahme liegt der Schwerpunkt auf einer guten Patientenansprache (siehe Abschnitt "Der symptomatische Patient an der Rezeption" in der Empfehlung für gute Praxis).

► Im Frühstadium der Symptome ist es wichtig, festzustellen, ob es eine behandelbare Ursache für die Symptome gibt und die Risikoaufklärung zu minimieren, da sich sonst die Symptome und das Krankheitsverhalten verstärken können.

Hintergrund
"Vermeiden ist das Letzte, was Sie tun sollten. Das verstärkt das negative Lernen", sagt Jyrki Korkeila, Professor für Psychiatrie an der Universität Turku über den Hang von "Elektrosensiblen", sich durch De-Exposition zu schützen.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
EHS, Provokationsstudie, Selbsttäuschung, Aerzteverband, Somatoforme Störung, Finnland, De-Exposition, negatives Lernen, Evidenz


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