Mobi-Kids: Marc Arazi sucht Haare in der Suppe (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 27.02.2022, 20:15 (vor 998 Tagen) @ Alexander Lerchl

Dr. med. Marc Arazi trat 2018 den Mobilfunkkritikern in Frankreich bei und gewann mit dem "Phongate-Skandal" eine gewisse Popularität unter seinen Gesinnungsfreunden. Da die Mobi-Kids-Großstudie nicht alarmierende, sondern entwarnende Ergebnisse zeigt, löst sie in der Anti-Mobilfunk-Szene zwangsläufig einen Entwertungsreflex aus. Auf der Suche nach Haaren in der Suppe ist Arazi jetzt prompt fündig geworden – zumindest glaubt er das.

Zuerst fiel Arazi auf: In der Veröffentlichung der Mobi-Kids-Studie fehlte die Textpassage, in der üblicherweise über Interessenkonflikte der Autoren Auskunft gegeben wird. Das ist ein valider Punkt. Er fragte, auch das ist in Ordnung, bei der Studienkoordinatorin Elisabeth Cardis nach. Sie bestätigte seinen Einwand und teilte mit, die fehlende Textpassage sei offensichtlich vergessen worden und werde umgehend nachträglich in die Publikation eingefügt. So geschah es dann auch und wer die Studie heute im www abruft, erfährt:

Declaration of Competing Interest

M Kundi is an expert witness in a court case in Washington D.C.

Although not a competing financial interest, D. Krewski holds a peer-reviewed university-industry chair in risk science administered by the Natural Sciences and Engineering Research Council of Canada (NSERC – Industrial Research Chairs Grants (nserc-crsng.gc.ca)). The Canadian Wireless Telecommunications Association was a past partner in this program, but had no active role in the research program of the Chair, which operates independently of the industrial partners. Dr. Krewski also serves as Chief Risk Scientist and CEO for Risk Sciences International (www.risksciences.com) a Canadian company established in 2006 in partnership with the University of Ottawa, which has conducted contract work on radiofrequency fields for Canadian federal government clients. F. Momoli also is a scientist at Risk Sciences International.

Before 2015 J Wiart was an employee of Orange. At that time, his work in the study was limited to dosimetry. In 2015 he became Ingenieur General des Mines, employed by the Institut Mines-Télécom, a state academic institute. J Wiart has no conflict of interest to declare.

Der Nachtrag brachte den Franzosen aber erst recht auf Touren. Am 3. Februar 2022 erregte er sich zuerst darüber, dass mit J. Wiart ein Mitarbeiter des Mobilfunknetzbetreibers Orange an der Mobi-Kids-Studie beteiligt war. Da die Studie zur treffsicheren Abschätzung der Exposition u.a. von den Netzbetreibern gespeicherte individuelle Nutzungsdaten der Studienteilnehmer auswertete, halte ich die Mitarbeit von Orange nicht für verwerflich, sondern für erforderlich. Irgendwelche Hinweise auf ein Fehlverhalten Wiarts benennt Arazi nicht, er belässt es beim Generalverdacht, Mitarbeiter eines Netzbetreibers könnten nur Böses im Schilde führen. Arazis Einlassung gegen Wiart sehe ich deshalb nicht als validen Punkt.

Anscheinend war auch Arazi mit seiner Einlassung vom 3. Februar nicht glücklich und schob deshalb am 10. Februar weitere Vorwürfe nach. Jetzt hatte er vier weitere Orange-Mitarbeiter ausgemacht, die an Mobi-Kids mitgewirkt haben sollen. Drei davon tauchen im Literaturverzeichnis als Autoren auf, mit Mühe ließe sich also herausfinden, ob die neuen Verdächtigen ebenso wie Wiart mit der Dosimetrie zu tun hatten. Auch hier beließ es Arazi jedoch beim Generalverdacht. Mir ist das zu einfach, einen validen Punkt zugunsten Arazis kann ich auch hier nicht erkennen.

Am 25. Februar holte Arazi zum nächsten Schlag aus. Diesmal traf es den kanadischen Studienautor Daniel Krewski. Er wird u.a. beschuldigt von 1999 bis zur Auflösung 2015 Präsident des Wireless Information Resource Center (WIRC) gewesen zu sein. WIRC und das McLaughlin Center hätten von der Canadian Wireless Telecommunications Association (CWTA) für Hochfrequenzforschung und Informationsverbreitung insgesamt Zuwendungen in der Größenordnung von zwei Millionen kanadischen Dollar (1,4 Millionen Euro) erhalten.

Einer amtlichen kanadischen Quelle zufolge war WIRC eine gemeinnützige Organisation, die unabhängige und unparteiische Informationen über die Forschung zu gesundheitlichen Auswirkungen der Funktechnik bereitstellte und später dem McLaughlin Center for Population Health Risk Assessment angeschlossen wurde. Anscheinend war das WIRC ein Konstrukt vergleichbar zur Schweizer Forschungsstiftung Strom und Mobilkommunikation (FSM) und zur Ende 2009 verstorbenen deutschen Forschungsgemeinschaft Funk (FGF), die ebenfalls aber nicht ausschließlich von der Mobilfunkindustrie finanziert wurde. Einerseits stellte die FGF erstklassige Informationen über das "Risiko Mobilfunk" bereit, andererseits litt auch sie immer unter dem Generalverdacht der Parteilichkeit aufgrund ihrer Finanzierung. Von einem Bagatellvorfall abgesehen ist mir jedoch kein konkretes Fehlverhalten der FGF in Erinnerung geblieben. Im Gegenteil. Nach anfänglichem Misstrauen konnte ich mich irgendwann der Erkenntnis anschließen, dass es völlig in Ordnung ist, wenn sich die Mobilfunkindustrie finanziell an der Erforschung des Risikos Mobilfunk beteiligt, schließlich ist sie auch Verursacher dieses Risikos. Wenn eine "Firewall" eine interessengelenkte Einflussnahme der Industrie auf Forschungsprojekte verhindert, sehe ich Industriegeld unkritisch. Ob es eine wirksame "Firewall" bei der WIRC gab, wäre eine Rechercheaufgabe. Bei der FGF war sie insofern gegeben, weil diese jede Menge namhafte Mitglieder aufwies, die einen guten Ruf zu verlieren hatten, hätte sich die FGF als Handlanger der Industrie entpuppt.

Alles in allem kann ich Arazis Kampagne nicht viel abgewinnen. Aus meiner Sicht hat er keine scharfe Munition und muss deshalb viel Pulverdampf verbreiten, um Gefechtslärm vorzutäuschen wo Grabesstille herrscht. Die Kampagne gegen Mobi-Kids erinnert damit an viele andere Kampagnen organisierter Mobilfunkgegner, die sich als Strohfeuer herausstellten. Die meisten richteten sich gegen unliebsame Personen wie Bernhardt, Silny, Lerchl, Röösli oder Repacholi. Jetzt ist es nicht anders, eigentlich will Arazi die Mobi-Kids-Studie entwerten. Da er dazu keinen einzigen sachlichen Fakt vorbringt, von der vergessenen DOI einmal abgesehen, arbeitet er sich auf die traditionelle Weise ab, indem er versucht, an Mobi-Kids beteiligte Personen in Misskredit zu bringen. Möglicherweise war Franz Adlkofer für diese Form der Auseinandersetzung stilprägend. Nachdem er ab 2008 meiner Einschätzung nach dem Fälschungsverdacht Lerchls auf wissenschaftlichem Parkett nicht allzu viel entgegenhalten konnte, verlagerte er den Streit um "Reflex" von der Wissenschaft in die Gerichtssäle und starte mit Unterstützung seiner Sprachrohre eine bis heute andauernde Kampagne, die nur ein Ziel hat: Die Integrität seines Kontrahenten rückwirkend bis zur Steinzeit und vorauswirkend bis zum Jüngsten Gericht zu zerbröseln.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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