MOBI-Kids: Studienkritik von Hardell & Moskowitz (II) (Allgemein)
Mit ihrer 13 Druckseiten umfassenden Studienkritik an Mobi-Kids haben sich Hardell und Moskowitz augenscheinlich richtig Mühe gegeben, die Großstudie gründlich zu entwerten. Doch was wäre gewesen, wäre diese multinationale Studie nicht zu entwarnenden Ergebnissen gekommen, sondern zu alarmierenden? Hätten Hardell & Moskowitz sich dann ebenfalls kritisch zu Wort gemeldet – oder geschwiegen? Das Posting geht dieser Frage mit Bordwerkzeugen nach.
In kontrovers diskutierten wissenschaftlichen Streitfragen ist es nicht ungewöhnlich, dass, wenn eine Streitpartei Studienergebnisse vorlegt, die andere Streitpartei versucht, diese zu entwerten. Findet das Ganze leidenschaftslos mit guten Sachargumenten auf wissenschaftlichem Niveau statt, hilft so ein Streit die Erkenntnislage in der Streitfrage Stück für Stück zu bessern, indem z.B. Schwächen eines Studiendesigns erkannt und Fehler nicht wiederholt werden.
Was aber, wenn eine Studie ohne vermeidbare Schwächen nur deshalb angegriffen wird, weil sie zu Ergebnissen gekommen ist, die z.B. den materiellen Zielen einer Interessengruppe zuwider laufen? Sichergestellte und öffentlich gemachte interne Dokumente der Tabakindustrie zeigen, solche Fälle hat es tatsächlich gegeben und Big Tobacco war nicht zimperlich, gegen missliebige Studien das Störfeuer zu eröffnen – auch mit Hilfe ihr zugetaner Wissenschaftler. Ziel war nicht die Vernichtung des Gegners, es genügte vollauf, Zweifel an der Integrität der Studienautoren und ihrer Arbeit zu wecken. Diese Strategie der gezielten Entwertung von Störern praktiziert Homo Sapiens mutmaßlich in allen Lebenslagen, seitdem er genug Grips dafür entwickelt hat. So half schon den alten Römern die berühmte Frage Cui bono? (wem zum Vorteil?), Verbindungen zwischen Störern und Gestörten ausfindig zu machen. Die Idee für dieses Posting geht jedoch konkret auf diesen Gedanken des Forumteilnehmers "e=mc2" zurück.
Was also spricht dafür, dass Mobilfunkkritiker eine Studie erst dann angreifen, wenn sie die Studie als missliebig identifizieren können? Im Fall von Mobi-Kids gibt es dafür einige Anhaltspunkte.
Mobi-Kids-Studienprotokoll seit 2014 öffentlich und unentgeltlich zugänglich
Das Mobi-Kids-Studiendesign muss bereits vor 2009 entworfen worden sein, denn bei der ersten Erwähnung der Studie hier im Forum ging es bereits um deren Start. Spätestens seit Mai 2009 hätten Mobilfunkkritiker sich also für diese Großstudie interessieren können. Im September 2014 legten die Mobi-Kids-Studienautoren Siegal Sadetzki et al. nach und publizierten für jeden einsehbar das Studienprotokoll, das detailliert den Ablauf der Mobi-Kids-Studie schildert. Damit lagen, bis auf die Resultate, alle Karten auf dem Tisch, öffentliche Kritik von Mobilfunkkritikern am Studienprotokoll gab es damals jedoch nicht.
Hardell & Moskowitz rennen offene Türen ein
Knapp zwei Monate nach Erscheinen der Mobi-Kids-Ergebnisse reichten die beiden Studienkritiker ihre Entgegnung als Manuskript ein. Im Abstract schreiben sie u.a. "Die meisten Odds-Ratios (ORs) in der MOBI-Kids-Studie waren <1,0, einige davon statistisch signifikant, was auf eine präventive Wirkung von HF-Strahlung hindeutet; dies steht im Gegensatz zu den derzeitigen Erkenntnissen über die Karzinogenese von Hochfrequenz (HF). Diese Ergebnisse von MOBI-Kids sind biologisch nicht plausibel und deuten darauf hin, dass die Studie aufgrund methodischer Probleme fehlerhaft ist."
Wer nur den Abstract der Kritiker liest könnte nun glauben, sie hätten einen eklatanten Schwachpunkt als Erste entdeckt. Ein Irrtum, denn wie man hier erfahren kann, ist das Problem mit den unplausiblen ORs den Studienautoren nicht verborgen geblieben, von ihnen diskutiert und mit einer Ursachenvermutung versehen worden. Entwerten diese unplausiblen ORs die gesamte Studie? Das BfS schreibt dazu: "Aufgrund möglicher Verzerrungsquellen, die in Fall-Kontroll-Studien trotz größter Sorgfalt und größtem Aufwand vorhanden sein können, kann auch auf Basis dieser Studienergebnisse ein kleiner Risikoanstieg nicht völlig ausgeschlossen werden. Insgesamt sprechen die Beobachtungen der Studie aber deutlich gegen ein substantiell erhöhtes Risiko von Hirntumoren durch die Nutzung von Mobiltelefonen und kabellosen Telefonen bei Kindern und Jugendlichen." Diese Sicht einer deutschen Behörde weicht erheblich von Hardells und Moskowitz' Résumé ab, das ein Verwerfen der Mobi-Kids-Studie fordert.
Nächster Punkt im Abstract der Kritiker: "Es wurden nur chirurgische Kontrollen mit Blinddarmentzündung verwendet, anstatt bevölkerungsbasierte Kontrollen aus demselben geografischen Gebiet wie die Fälle." Ja, gute Frage, wieso zum Teufel wurde die Kontrollgruppe bei Mobi-Kids ausgerechnet mit Kindern und Jugendlichen gebildet, die wegen Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert wurden? Das klingt absurd! Die Studienautoren erklären diese spezielle Kontrollgruppe damit, es wäre erfahrungsgemäß äußerst schwierig geworden anderweitig in dieser Altersgruppe eine ausreichend große Kontrollgruppe auf die Beine zu stellen. Also habe man sich entschlossen, passende Blinddarm-Patienten zu akquirieren, die in ausreichender Anzahl in Krankenhäusern zur Verfügung standen und vielleicht über etwas Abwechslung ganz froh waren. Dieses Vorhaben ist auch im Studienprotokoll von 2014 beschrieben, damals aber schwiegen die Kritiker.
Nächster Punkt im Abstract der Kritiker: "Tatsächlich wurde ein erhöhtes Auftreten von Blinddarmentzündungen im Zusammenhang mit HF-Strahlung postuliert, was die Auswahl der Kontrollgruppe in der MOBI-Kids-Studie fragwürdig erscheinen lässt." Ja, gut, aber warum habt ihr das nicht schon 2014 anlässlich der Veröffentlichung des Studienprotokolls bemängelt? Moment mal: Wer war das, der Blinddarmentzündungen im Zusammenhang mit HF-Strahlung beobachtet haben will. Freundlicherweise nennen die beiden Kritiker als Quelle 53: Becker RO, Selden G, Guarnaschelli MD, editors. The body electric: electromagnetism and the foundation of life. New York: William Morrow Paperbacks; 1998.
Robert O. Becker war gemäß Wikipedia ein US-amerikanischer Orthopäde und Spezialist für Elektrotherapie. Das riecht nach Humbug, Becker war dem EMF-Portal zufolge aber wohl ein ernsthafter Wissenschaftler. Und in seinem Buch "The body electric" wird tatsächlich der Begriff "appendicitis" auf 364 Seiten genau 1-mal erwähnt. Becker spricht an dieser Stelle jedoch nicht von eigener EMF-Forschung, sondern von sowjetischer. Zinaida V. Gordon und Maria N. Sadchikova vom sowjetischen Institut für Arbeitshygiene und Berufskrankheiten hätten 1971 anlässlich einer Konferenz in Warschau eine umfassende Reihe von Symptomen benannt, die sie als Mikrowellenkrankheit bezeichneten. Die ersten Anzeichen seien niedriger Blutdruck und langsamer Puls. Die späteren und häufigsten Erscheinungsformen seien eine chronische Erregung des Sympathikus (Stresssyndrom) und Bluthochdruck. In dieser Phase träten häufig auch Kopfschmerzen, Schwindel, Augenschmerzen, Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Übelkeit, Magenschmerzen, nervöse Anspannung, Konzentrationsschwierigkeiten, Haarausfall sowie ein häufigeres Auftreten von Blinddarmentzündungen, grauem Star, Fortpflanzungsproblemen und Krebs auf. Das ist alles, mehr steht bei Becker nicht über Blinddarmentzündungen, vor allem gibt es keinerlei Angaben, unter welcher EMF-Immission (Typ, Intensität, Dauer ...) die geschilderten Symptome auftraten. Wer das selbst an einer Fotokopie des Originalbuchs auf Seite 315 nachlesen möchte, kann das PDF hier laden.
Quelle 53 ist damit eine reichlich trübe Sekundärquelle, mit der sich ein Zusammenhang zwischen Blinddarmentzündungen und EMF-Einwirkung nicht auf wissenschaftlich brauchbarem Niveau nachweisen lässt, wohl aber für entsprechend konditioniertes Laienpublikum.
Damit breche ich das Posting, weil es schon spät ist und ich noch anderes vorhabe, an dieser Stelle ab. Die noch fehlende Schlussfolgerung aus der Faktensammlung oben hole ich später (Teil III) nach.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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