Erwin Schliephake 1932: Sendemastengegner-Ikone wider Willen (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 25.04.2010, 19:52 (vor 5132 Tagen)

[Strang abgetrennt hier am 20.10.2011]

In der "Heilbronner Stimme" vom 23.04.10 gibt es einen Zeitungsartikel zu einer Veranstaltung ...

... in dem steht: Bereits 1932 wurde das Mikrowellensyndrom der Funkfrequenzkrankheit beschrieben, unter anderem mit Herz-Rhythmusstörungen, einem Symptom, unter dem heute auch Menschen in der Nähe von Mobilfunkmasten klagen.

Wie ich es liebe, wenn keine Quellen genannt werden! Aber: Bei "1932" klingeln nicht so viele Glocken, dabei muss es sich um Dr. Erwin Schliephake handeln, einen deutschen Mediziner, den Sendemastengegner zur Ikone ernannt haben.

1932 publizierte Schliephake seinen Vortrag "Arbeitsergebnisse auf dem Kurzwellengebiet" in Ausgabe 32 der Zeitschrift "Medizinische Deutsche Wochenschrift".

Soeben habe ich das PDF dieses Vortrags nach "Herz-Rhythmusstörungen" und ähnlichem durchsucht - vergebens, Schliephake erwähnt diesen Begriff in seiner Arbeit überhaupt nicht. Ebenso wenig steht dort etwas von "Funkfrequenzkrankheit" oder gar von einem (damals unbekanntem) "Mikrowellensyndrom". Wenn aber nicht von Schliephake, woher dann will Gutbier seine Informationen aus dem Jahr 1932 haben? Allem Anschein nach wurden da wieder einmal Zuhörer für dumm verkauft.

Es kommt aber noch besser: Schliephake, den Sendemastengegner so gerne als ersten Warner vor dem "Mikrowellensyndrom" hinstellen, dieser Mann ist der Erfinder der Kurzwellentherapie, mit der durch kräftige Befeldung auch innere Organe gezielt erwärmt werden können. Schliephake benutzte dazu Kurzwellensignale, die er per Hautkontakt (Elektroden) oder drahtlos (mit Hilfe von Kondensatorplatten) in den Körper einbrachte. Dass Schliephake bei seinen Experimenten häufiger einer erheblichen Funkfeldbelastung ausgesetzt war, ist sehr wahrscheinlich. Geschadet hat es ihm jedoch nicht, der Mann, er erlebte noch die Einführung des Digitalfunks, wurde 100 Jahre alt!

Absurd ist die Vereinnahmung von Schliephake durch Sendemastengegner jedoch aus einem anderen Grund: Der Forscher nennt in seiner 1932 erschienenen Arbeit keinerlei konkrete Werte für Feldstärke oder Leistungsflussdichte. Er quantifiziert nur sehr grob, dies aber zu Ungunsten der Sendemastengegner, denn er schreibt:

Der Gesamtorganismus wird schon im Strahlungsfeld von starken Kurzwellensendern durch die freie Hertzsche Welle deutlich beeinflusst. Das empfinden alle Personen, die längere Zeit hindurch an solchen Sendern ohne genügende Schutzmittel haben arbeiten müssen. Es treten Erscheinungen auf, wie wir sie bei Neurasthenikern zu sehen gewohnt sind: starke Mattigkeit am 'Tag, dafür in der Nacht unruhiger Schlaf, zunächst ein eigenartig ziehendes Gefühl in der Stirn und Kopfhaut, dann Kopfschmerzen, die sich immer mehr steigern, bis zur Unerträglichkeit. Dazu Neigung zu depressiver Stimmung und Aufgeregtheit.

Das also soll das angebliche "Mikrowellensyndrom" sein, wie es Alarmkritiker wie Frau Dr. Waldmann-Selsam den sehr schwachen Funkfeldern von Mobilfunksendern zuschreiben wollen? Vergleichen wir mal die Sendeleistungen: Ein kräftiger Mobilfunksender hat 50 W Sendeleistung, ein kräftiger Kurzwellensender der 30er-Jahre kam auf 20'000 W Sendeleistung. Dieser Vergleich aber ist nicht entscheidend, wichtiger ist, dass Schliephake überhaupt nicht von Personen spricht, die sich bis zu hunderte von Metern von den Antennen entfernt aufhalten, sondern von Personen, die direkt an den Sendern hantieren mussten. Da bekanntlich der Abstand zu Emissionsquellen die Exposition maßgebend bestimmt, bleibt von dem Alarm der Sendemastengegner nichts mehr übrig: Denn Schliephake formuliert lediglich die Erkenntnis, dass Arbeiten im nahen Wirkungsbereich eines Funksenders Gefahr bedeuten können. Dies war 1932 so und gilt auch 2010 noch. Aus eben diesem Grund, den Schliephake korrekt benennt, gibt es um Mobilfunk-Sender in horizontaler und vertikaler Richtung bekanntlich eine präzise bemessene Sicherheitszone, in der sich - der hohen Feldintensitäten wegen - niemand ohne Schutz dauerhaft aufhalten darf und infolge Sperrmaßnahmen auch nicht kann.

Ebenfalls eine Nullnummer für Sendemastengegner: Schliephake schreibt in seinem Artikel, am unangenehmsten seien anscheinend die Wellen von etwa 4-5 m Länge. Davon aber erwähnenen Schliephake-Fans wie Waldmann-Selsam nichts. Warum nicht? Weil heutiger Mobilfunk mit viel kleineren Wellenlängen von 0,33 m, 0,17 m und darunter arbeiten, weit weg von den "unangenehmen" 4 bis 5 Metern! Dies macht sehr schön das Informationsprinzip fanatischer Sendemastengegner deutlich: Was zur Ideologie passt wird mit Kusshand genommen und breit publiziert, was nicht passt wird einfach weggelassen und verschwiegen.

Wer Schliephake zum Anwalt der Sendemastengegner macht, wie dies nicht nur Gutbier versucht, zeigt lediglich eines: Er hat Schliephakes Publikation von 1932 entweder nicht gelesen - oder gelesen aber nicht verstanden. Es ist wahrlich verdammt kurz gedacht, sich an einer Auflistung von Symptomen aus dem Jahr 1932 zu erfreuen, ohne zu beachten, dass diese nur unter extrem starker und länger andauernder Feldeinwirkung beobachtet wurden. Wer lieber nur abschreibt, was andere erarbeitet haben, der bemerkt solche Fehler natürlich nicht. Urteilen Sie mal selbst, wie dick die Bretter sind, die nachfolgend exemplarisch gebohrt werden:

http://www.mikrowellensmog.info/syndrom.html
http://www.diewellenbrecher.de/?page=historie
http://www.itas.fzk.de/tatup/083/kapp08a.htm
http://brennpunkt-mobilfunk.de/allgemein/arztfortbildung.htm
http://tinyurl.com/39cn4cy
http://tinyurl.com/2u4sxyv
http://tinyurl.com/2wb64lk

usw. usf.

Kuriosum an Rande: Thiema, das ist der Verlag, der die "Deutsche Medizinische Wochenschrift" herausgibt, ist sich selbst nicht im Klaren, ob der besagte Schliephake-Beitrag nun 1931 oder 1932 erschien - er taucht in der Publikationsliste dort folglich 2-mal auf. Wer im Netz ein bisschen sucht, kann sich die 26 Dollar für das PDF des Artikels sparen. Ob das, was er dann findet allerdings authentisch ist, und nichts böswillig verzerrt wurde wie etwa hier, das ist bei unautorisierten Kopien nicht so leicht zu sagen.

Nachtrag vom 4. Oktober 2019: Siehe auch Wie Mobilfunkgegner mit Erwin Schliephake Ängste schüren

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Die Grünen, Fortbildung, Mikrowellensyndrom, Schliephake, Depressivität, Gutbier, Vereinnahmung, Kurzwelle


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