Wer nichts weiß, muss alles glauben (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 30.09.2007, 21:00 (vor 6264 Tagen) @ KlaKla

Da ich keine mikrowellenbestrahlten Bio-Lebensmittel für mich und meine Familie wünsche, habe ich den dm angeschrieben.

Das erinnert mich doch sehr an den Fall Semmelweis.

Also ich muss zugeben, dass mich dieser Aktionsaufruf von Frau Kern denn doch einigermaßen erschüttert hat. Denn Frau Semmelweis, die von der ebenfalls irrationalen Angst geplagt wird, Funkwellen von der DECT-Basis eines Nachbarn "verstrahlten" ihre Lebensmittel, diese Frau Semmelweis ist nach Auskunft Ihrer Tochter seit vielen Jahren wegen Schizophrenie in Behandlung. Diese Krankheit ist eine plausible Erklärung für ihre panische Angst vor Funkfeldern, wobei Frau Semmelweis übrigens nicht unterscheidet zwischen unstrittig gefährlicher radioaktiver Strahlung und schwachen Funkfeldern, die aller Voraussicht nach für Lebewesen (und erst recht für Lebensmittel) unbedenklich sind.

Frau Kern ist schließlich nicht irgendwer. Sie ist Ehefrau von Dr. Markus Kern, Facharzt für psychosomatische Medizin und einer der Sprecher der "Kompetenzinitiative". Damit sollte sie Zugang haben zu Informationen, die der alten Frau Semmelweis nie und nimmer zugänglich sind.

Und dennoch reagieren beide Frauen gleich: Sie fürchten eine nicht näher beschriebene aber auf jeden Fall gesundheitsschädliche Veränderung in den von schwachen Funkfeldern "verstrahlten" Lebensmitteln. Wie kommt es zu dieser kollektiven krassen Fehleinschätzung, die einmal mehr dazu führt, dass Mobilfunkkritiker mit resigniertem Kopfschütteln und Achselzucken ins Abseits geschoben werden? Aus meiner Sicht liegt in beiden Fällen ein ausgeprägtes Kenntnisdefizit über die Funktechnik vor, gepaart mit einer großen Aufnahmebereitschaft für Fundi-Propaganda. Und die macht meines Wissens keinen Unterschied, ob die Paprikaschote im dm-Regal sich über ein paar Mikro- oder meinetwegen Milliwatt pro Quadratmeter amüsiert, oder wegen der immensen Leistungsflussdichte von ein paar 100 Watt pro Quadratmeter im Innern eines Mikrowellenofens schon nach nur ein paar Sekunden ihr erstes Paprikaleben aushaucht und dazu übergeht, mitsamt Hackfleischfüllung ganz arglos und nicht arglistig die Begehrlichkeiten eines eiligen Mikrowellenkochs zu befriedigen.

Auf der Suche nach irgendwelchen Belegen dafür, dass die Ängste der beiden Frauen vielleicht doch ein Fünkchen begründet sind, bin ich dann zufällig auf die schöne "Katzenstory" gestoßen, die ich neulich schon einmal im Zusammenhang mit Zwerenz erwähnt habe. Die hier in einem anderen Forum zum Besten gegebene Variante der Katzenstory ist zwar ein wenig abweichend, dafür aber mit genialen Formulierungen gewürzt, die einen glatt aus dem Sessel katapultieren können. Kostprobe: Tests zeigten, daß diese Tiere trotz ihres Übergewichtes extrem unterernährt waren. Quellenangaben sucht man bei derartigen Schauermärchen selbstverständlich wie immer vergebens. Märchen brauchen keine Quellen. Das wusste schon Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916), die einen Leitspruch gefunden hat, dem Fundis heute liebend gerne folgen: Wer nichts weiß, muss alles glauben.

Für mich ist der unselige dm-Aktionsaufruf von Frau Kern nur eins: hochgradig kontraproduktiv. Goethe zitieren zu können reicht einfach nicht aus, um in der Mobilfunkdebatte wirklich punkten zu können.

[Hinweis Moderator - 31.07.2010 10:56 Uhr
Vorsicht mit Links, die auf die Webseiten der Kompetenzinitiative gehen.
Die Seiten sind womöglich infiziert mit Trojaner, Spyware und Würmer. Weitere Detail sind hier nachzulesen.]

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Zwerenz, Ko-Ini, Glaubwürdigkeit, Kern, Katze


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