Wie "Schweiz am Sonntag" die öffentliche Meinung modelliert (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Montag, 13.06.2016, 20:43 (vor 3071 Tagen) @ H. Lamarr

Jetzt meldet sich mit ähnlich kompetentem Einspruch der Schweizer Bauernverband zu Wort.

Hier wieder ein Beispiel dafür, wie Journalisten subtil ein Meinungsbild verzerren können. Im konkreten Fall geht es um den Artikel Bauern kämpfen gegen Handy-Strahlen von Annika Bangerter in "Schweiz am Sonntag". Der Artikel erweckt den irreführenden Eindruck, die schweizer Bauernschaft würde sich massiv gegen eine Aufgabe der schweizer Mobilfunk-Vorsorgewerte aussprechen. Doch bei genauerem Hinsehen schmilzt die Bauernschaft auf höchstens zwei Bauern zusammen.

Handyantennen sollen stärker strahlen dürfen. Das will eine Motion. Jetzt formiert sich Widerstand, heißt es gleich zu Beginn des Artikels. Doch was ist das für Widerstand, der sich angeblich jetzt formiert? Zuerst nennt die Autorin einen alten Bekannten, den Bauern Hans Sturzenegger, der aber nicht jetzt, sondern schon seit rund zehn Jahren als Star eines Blinde-Kuh-Ensembles der Mobilfunkgegner durch die Gazetten geistert und auf Einladung in Landgasthöfen vor Publikum gegen Mobilfunk wettert. Ob ein Landwirt dafür fachlich qualifiziert ist, sei dahingestellt.

Wir halten fest: Bauer Sturzenegger ist 1 x Widerstandskämpfer gegen Mobilfunk. Ungefähr 75 % Ihres Artikels beschäftigt sich Frau Bangerter allein mit ihm.

Doch wo bleibt das Bauernheer, das die Titelzeile vermuten lässt? Frau Bangerter gibt Auskunft indem sie schreibt:

Doch nun formiert sich Widerstand: Den Ärzten für Umweltschutz folgen der Hauseigentümer- und Bauernverband.

Bei Letzterem ist Thomas Jäggi für das Thema Elektrosmog zuständig. Er kritisiert die Pläne scharf: «Schöpfen neu alle drei Mobilfunkanbieter den Grenzwert einer Antenne aus, führt dies zu einer Verdreifachung der Strahlen.» Falls der aktuelle Oberwert zusätzlich angehoben würde, fallen die Werte noch höher aus, sagt Jäggi: «In dieser Motion ist eine Maximalforderung verpackt, die an Dreistigkeit kaum zu überbieten ist.»

Ahhhja, so ist das also: Der Schweizer Bauernverband (SBV) leistet Widerstand. Aber stimmt das auch? Frau Bangerter redet allein von einem Herrn Jäggi. Wahrscheinlich ist er ein Stimmband der Bauern und verkündet, was der Vorstand beschlossen hat. Ein Blick auf die Website des Bauernverbandes wird schnell Klarheit schaffen, was genau der Vorstand zur geplanten Abschaffung des Schweizer Mobilfunk-Vorsorgewerts zu sagen hat. Doch was ist das?! Weder bei den Medienmitteilungen des SBV noch bei seinen Stellungnahmen findet sich auch nur die Spur von etwas Widerständlerischem in Sachen Elektrosmog. Stattdessen sind Milchgipfel, Milchkuh-Initiative und Swissness derzeit die Themen, die den SBV bewegen.

Annika Bangerter hat vermutlich am Telefon ein Schwätzchen mit Thomas Jäggi gehalten und suggeriert dem unaufmerksamen Leser nun der Schweizer Bauernverband habe gesprochen. Tatsächlich hat Thomas Jäggi lediglich seine persönliche Meinung zum Besten gegeben!

Wir halten fest: Thomas Jäggi ist 1 x Widerstandskämpfer gegen Mobilfunk.

Doch warum kontaktiert die Journalistin ausgerechnet Herr Jäggi? Dies ist leicht zu beantworten: 2014 organisierte dieser gemeinsam mit dem Veterinärmediziner Prof. Hässig eine Schweizer Meldestelle für elektrosensible Kühe und gab begleitend dazu ein Merkblatt Gefährdung von Nutztieren durch "Elektrosmog" heraus. Wer Herrn Jäggi mit diffuser Angst vor Elektrosmog infiziert hat ist unklar, fest steht nur: Er wurde infiziert und sein Kommentar in "Schweiz am Sonntag" macht deutlich, er weiß nicht wirklich worum es geht (für Kühe auf Weiden und in Ställen galten noch nie Mobilfunk-Vorsorgewerte, sondern schon immer die nicht in Diskussion stehenden Immissionsgrenzwerte).

Das vermeintliche Bauernheer gegen die Aufgabe des Schweizer Mobilfunk-Vorsorgewerts zählt somit gerade einmal zwei Streiter: Sturzenegger & Jäggi (wobei ich bei Funktionär Jäggi zugunsten der Widerständler annehme, er sei zugleich auch Milchbauer).

Können wir also wieder getrost zur Tagesordnung zurück kehren? Ja, aber zuvor ist noch zu klären, was denn mit dem Hauseigentümerverband (HEV) ist, den Frau Bangerter im Vorübergehen mal eben schnell den Widerständlern zugeschlagen hat, dann aber im Rest ihres Artikels mit keinem Wort mehr erwähnt! Ja was ist denn nun mit dem HEV? Nichts! Wie ein Blick auf die Website des Verbands belegt, interessiert dieser sich gegenwärtig für vieles, nur eben nicht für die Beibehaltung des Schweizer Vorsorgewerts. Warum die Journalistin überhaupt auf den HEV zu sprechen kommt bleibt ihr Geheimnis.

Fazit: Die Autorin verspricht mit dem Titel ihres Artikels etwas, was der Inhalt nicht hält. Denn Milchbauern hat die Schweiz ein paar mehr als nur zwei, 2015 waren rund 28'600 Landwirtschaftsbetriebe in der Milchproduktion tätig. Frau Bangerter ist gelernte Journalistin und modelliert die öffentliche Meinung mit ihrem Artikel sehr geschickt (unauffällig). Es ist durchaus eine Kunst, 2 Milchbauern wie 28'600 aussehen zu lassen. Doch stolz darf sie aus meiner Sicht auf diese Kunst nicht sein, denn statt ihre Leser zu informieren, desinformiert sie diese.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Zerrbild, Manipulation, Meinungsbildung, Bauernverband, Niedergang, Journalismus, Motion, HEV, Hauseigentümerverband, Jäggi


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