Handystrahlung macht dick! Wirklich? (Forschung)
Kaum zu glauben, meint Diagnose-Funk in seiner jüngsten "Pressemitteilung" vom 10. März 2022, Handystrahlung macht dick! Der Stuttgarter Anti-Mobilfunk-Verein versucht mit seiner Meldung eine Welle zu surfen, die von einer Arbeitsgruppe der Universität Lübeck angeschoben und zuerst im Januar 2022 von RTL geritten wurde. Können Dicke die Schuld an ihrem Übergewicht tatsächlich erfolgreich auf ihr Smartphone abwälzen? Da gibt es ein paar Einwände.
Bekanntlich lässt der Verein Diagnose-Funk keine Gelegenheit aus, sich öffentlich lächerlich zu machen. Diesmal schafft das die selbst ernannte Umwelt- und Verbraucherorganisation, indem sie großspurig und brav genderkonform tönt:
[...] diagnose:funk fordert angesichts dieser neuen Erkenntnisse von Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach und von der Bundesärztekammer eine breite Aufklärungskampagne für die Bevölkerung und die Ärzteschaft: Der Zusammenhang zwischen Mobilfunkstrahlung und Übergewicht muss den Bürgerinnen und Bürgern und den Ärztinnen und Ärzten bekannt werden, um daraus Verhaltensänderungen und Gesundheitshinweise ableiten zu können. [...]
Keine Frage: Weil die Forderung maßlos überkandidelt ist, werden ihr weder der Minister noch die Bundesärztekammer je nachkommen. Doch worum geht es überhaupt?
Die Universität Lübeck gibt Auskunft
Gängige Therapieprogramme zur Gewichtsreduktion basieren auf Diätplänen, Ernährungsumstellung, Kalorienrechnern, Sportprogrammen etc. und sind nach aktuellem Kenntnisstand nicht nachhaltig wirksam. Langfristig führen sie in der überwiegenden Zahl der Fälle zur Wiederzunahme des Gewichts, häufig sogar noch über die Ausgangssituation hinaus (Jojo-Effekt). Die Zahl Übergewichtiger steigt daher kontinuierlich weiter an. Einen Erklärungsansatz für diese Entwicklung sehen Forscher in einer Störung der Energiehomöostase im Gehirn. Das Team um Prof. Kerstin Oltmanns konnte bereits 2010 nachweisen, dass es einen Zusammenhang zwischen steigendem Körpergewicht und reduziertem Energiegehalt im menschlichen Gehirn gibt. Die Ursache für den verringerten Energiestatus war jedoch völlig unklar. Oltmanns suchte nach der Ursache und entdeckte 2018, im Gehirn von adipösen Menschen ist die Gewinnung von Energie aus Glukose (Zucker) stark vermindert. Diese gestörte Energiegewinnung des Gehirns könnte eine Erklärung für das häufig fehlende Sättigungsgefühl Übergewichtiger sein.
Die Arbeitsgruppe um Oltmanns forschte weiter und veröffentlichte im Januar 2022 die Ergebnisse ihrer Experimentalstudie Mobile Phone Radiation Deflects Brain Energy Homeostasis and Prompts Human Food Ingestion (Volltext), mit der sie Diagnose-Funk zu der peinlichen Pressemitteilung inspirierte. Der Abstract der Arbeit nennt Details:
Fettleibigkeit und die Nutzung von Mobiltelefonen haben sich gleichzeitig weltweit verbreitet. Von Mobiltelefonen ausgehende hochfrequente modulierte elektromagnetische Felder (HF-EMFs) werden größtenteils vom Kopf des Benutzers absorbiert, beeinflussen den zerebralen Glukosestoffwechsel und modulieren die neuronale Erregbarkeit. Die Anpassung des Körpergewichts wiederum ist eine der wichtigsten Gehirnfunktionen, da das Verhalten bei der Nahrungsaufnahme und die Appetitwahrnehmung der hypothalamischen Regulierung unterliegen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns gefragt, ob ein Zusammenhang zwischen Mobilfunkstrahlung und Nahrungsaufnahme bestehen könnte. In einem einfach verblindeten, randomisierten Crossover-Vergleich wurden 15 normalgewichtige junge Männer (23,47 ± 0,68 Jahre) unter Nüchternbedingungen 25 Minuten lang HF-EMF ausgesetzt, die von zwei unterschiedlichen Mobiltelefonen emittiert wurden, im Vergleich zu einer Scheinbefeldung. Die spontane Nahrungsaufnahme wurde durch einen Standardtest bestimmt, die zerebrale Energie-Homöostase wurde mit 31-Phosphor-Magnetresonanz-Spektroskopie-Messungen überwacht. Die Exposition gegenüber beiden Mobiltelefonen erhöhte die Gesamtkalorienaufnahme im Vergleich zur Scheinbedingung auffallend um 22-27%. Differenzierte Analysen der Makronährstoffaufnahme zeigten, dass der höhere Kalorienverbrauch hauptsächlich auf eine erhöhte Kohlenhydrataufnahme zurückzuführen war. Messungen des zerebralen Energiegehalts, d.h. des Verhältnisses von Adenosintriphosphat und Phosphokreatin zu anorganischem Phosphat, zeigten einen Anstieg bei Mobiltelefonstrahlung. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass HF-EMFs ein potenzieller Faktor für übermäßiges Essen sind, das der Adipositas-Epidemie zugrunde liegt. Darüber hinaus können die beobachteten HF-EMF-induzierten Veränderungen der Energiehomöostase des Gehirns unsere Daten in einen breiteren Kontext stellen, denn eine ausgewogene Energiehomöostase des Gehirns ist von grundlegender Bedeutung für alle Gehirnfunktionen. Mögliche Störungen durch elektromagnetische Felder könnten daher einige allgemeine neurobiologische Auswirkungen haben, die noch nicht absehbar sind.
Bei diesem Abstract ist es kein Wunder, dass Diagnose-Funk auf die Studie abgeht wie Schmitts Katze.
Exposition mit Steinzeithandys
Als Ingenieur der Nachrichtentechnik erlaube ich mir zu den biologischen Befunden, weil ich davon nichts verstehe, keine Meinung. Allerdings, für die markigen Schlusssätze im Abstract war die Probandengruppe vielleicht doch etwas zu klein. Möglicherweise ist dies auch mit ein Grund, warum die Pressestelle der Universität Lübeck die Sensationsstudie nicht mit einer Medienmitteilung begleitet hat.
Was mir an der Studie missfällt ist die Dosimetrie. Denn die verwendeten Mobiltelefone sind ein Nokia 5800d-1 und ein Motorola L2, das sind Handy-Oldtimer. Das Motorola kam 2006 auf den Markt und kann nur GSM (900 MHz und 1800 MHz), das Nokia suchte ab 2008 Käufer und kann neben GSM immerhin schon UMTS. Anlässlich der Studie wurden beide Geräte im GSM-900-Modus betrieben, also in der Betriebsart, die mit maximal 2 W (peak) die mit Abstand höchste Ausgangsleistung aller bisherigen Mobilfunkstandards zulässt. Und diese Maximalleistung wurde anlässlich der Studie auch tatsächlich gezielt abgerufen. Möglich wurde dies mit einem Funkmeßplatz, der als Basisstation fungierte und die Mobiltelefone anwies, mit Maximalleistung zu senden.
Wären wir im Jahr 2006, gäbe es an der Fixierung auf GSM 900 nichts auszusetzen. Damals welkte GSM noch nicht. Anno 2022 ist GSM jedoch ein Auslaufmodell, das bevorzugt in ländlichen Regionen einen Telefon-Notbetrieb aufrecht erhält und nur wegen industrieller Anwendungen noch nicht begraben wurde. Warum ausgerechnet dieses veraltete System verwendet wurde und nicht ein heute übliches (LTE, 5G) mit geringerer Immission, dazu gibt die Studie keine Auskunft. Die Verwendung von GSM 900 reduziert jedenfalls die praktische Bedeutung der Befunde, da sie auf einer heute ungebräuchlichen Technik beruhen und somit, wenn überhaupt, retrospektiv von Bedeutung sind.
Wie nahe der Kopf der Versuchspersonen einem der Telefone kam ist in dem Paper nicht genauer beschrieben, die Probanden lagen offensichtlich in einer MRT-ähnlichen Röhre und das Telefon wurde mit einem "Headset" irgendwie in Kopfnähe gebracht. Sehen konnten es die Probanden gemäß Studie nicht.
Die in der Studie genannten SAR-Werte von 0,97 W/kg (Nokia) und 1,33 W/kg (Motorola) sind nicht etwa das Ergebnis einer aufwendigen SAR-Modellierung der konkreten Befeldungssituation, sondern es sind die modellspezifischen Herstellerangaben aus der Bedienungsanleitung der Mobiltelefone. Gemessen wurde die Emission nicht. Niemand weiß daher, wie viel EMF-Energie tatsächlich in den Kopf der Probanden eingebracht wurde.
Interessant sind die Werte in anderem Zusammenhang aber trotzdem, denn offenkundig befeldete das Motorola mit dem höheren SAR-Wert die Probanden merklich stärker als das Nokia. Zu erwarten wäre nun, dass die beobachten biologischen Effekte (Kalorienaufnahme, siehe Fig. 2 der Studie) bei der Befeldung mit dem Motorola sich stärker von der Scheinexposition unterscheiden, als beim Nokia. Dies aber trifft nicht zu, es ist genau umgekehrt, wenngleich die Unterschiede nur minimal sind. Dennoch: Der fehlende Dosis-Wirkung-Zusammenhang deutet darauf hin, dass die Beobachtungen der Studie möglicherweise dem Einfluss einer unerkannten Störgröße unterliegen und nicht auf die EMF-Einwirkung zurück zu führen sind. Dieser Schluss setzt voraus, dass die genannten SAR-Werte der beiden Mobiltelefone zutreffend sind. Aber sind sie das auch? Weiter unten komme ich auf diese Frage zurück.
Wissenschaftliche Besprechung der Studie
Schauen wir zuvor noch einmal in die "Pressemitteilung" von Diagnose-Funk. Dort heißt es, abermals so vollmundig wie lustig:
Wissenschaftliche Besprechung der Studie in der neuen Ausgabe 2022-1 der Fachzeitschrift ElektrosmogReport: https://www.emfdata.org/de/studien/detail&id=625
Wer das Online-Kampfblättchen Elektrosmog-Report mit "Wissenschaft" und "Fachzeitschrift" in Verbindung bringt, muss meiner Meinung nach unter einer schlimmen Wahrnehmungsverzerrung leiden. So findet sich denn auch in der "Besprechung" auf EMF-Data nur eine komprimierte Wiedergabe der englischen Studiendokumentation auf deutsch ohne jede kritische Anmerkung. Dass die Autorin des Textes (Diplom-Biologin i.R., Isabel Wilke) von Funkmesstechnik so viel versteht wie ich von Biologie, dokumentiert sie eindrucksvoll mit dem sinnfreien Satz:
Die Basisstation war ein Simulator mit konstanter Übertragung.
Gemeint ist damit: Der BTS-Simulator hatte die Aufgabe, für definierte reproduzierbare Testbedingungen zu sorgen, indem er die mit einer speziellen SIM ausgestatteten Mobiltelefone drahtlos auf den gewünschten Sprechkanal (TCH) dirigierte und zugleich die Telefone anwies, den Sendebetrieb mit der Leistungsstufe für höchste Sendeleistung aufzunehmen (Power Level 5 = Nominalwert 2 W = 33 dBm). Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Telefone zwangsläufig auch mit 2 W sendeten, denn der Sollwert von 33 dBm ist gemäß GSM-Spezifikationen mit einer Toleranz von ±3 dBm beaufschlagt. Die tatsächliche Ausgangsleistung kann demnach irgendwo zwischen 1 W und 4 W liegen.
Logisch, dass diese Schwankungsbreite sich 1:1 auch auf die SAR-Werte der Geräte auswirkt. Die oben genannten beiden Werte wurden mutmaßlich an je einem einzigen Testmuster in einem Messlabor ermittelt. SAR-Nachmessungen der französischen Funknetzagentur ANFR zeigen jedoch schön regelmäßig, dass Mobiltelefone den zulässigen SAR-Grenzwert von 2 W/kg überschreiten, was auf die Fertigungsstreuung bei Massenproduktion zurückzuführen ist. Worauf ich hinaus will: Die Arbeit von Oltmanns et al. krankt mMn an der fehlenden Expositionsmessung. Denn weil weithin unklar ist, welches Telefon wie stark auf den Kopf der Probanden einwirkte, lässt sich auch kein qualifizierter Dosis-Wirkung-Zusammenhang herleiten. Mein Gedankenexperiment oben beruht auf den wackligen SAR-Maximalwertangaben der Hersteller. Dies ist keine gute Ausgangsbasis, um aus geringfügigen Unterschieden bei beobachteten Effekten irgendwelche Rückschlüsse zu ziehen. Aufgabe von Wissenschaft sollte es mMn jedoch sein, mit ihren Arbeiten schlüssige Antworten auf gestellte Fragen zu geben und nicht mit ungefragten Antworten neue Fragen aufzuwerfen .
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –