Studie in China bestätigt: Medienberichte erzeugen "Betroffene" (Forschung)

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 29.10.2020, 14:30 (vor 1487 Tagen) @ H. Lamarr

Schlussfolgerung der Autoren: Medienberichte über negative Auswirkungen vermeintlich gefährlicher Substanzen erhöhen die Wahrscheinlichkeit a) nach einer Schein-Exposition Symptome zu zeigen und b) eine scheinbare Empfindlichkeit gegenüber der Substanz zu entwickeln. Verstärkte Bemühungen von Journalisten und Wissenschaftlern sind anzustreben, um diesen negativen Auswirkungen zu begegnen.

Vor acht Jahren kamen Witthöft und Rubin zu den o. g. Schlussfolgerungen. Und, hat sich seither etwas geändert? Ja, die Situation hat sich aus meiner Sicht weiter verschlimmert, da die eilfertige Verbreitung alternativer Fakten aus alternativen Medien sich inzwischen zu einem Volkssport entwickelt hat.

Der Befund von Witthöft und Rubin wurde 2020 von einer chinesischen Arbeitsgruppe bestätigt: An Experimental Study of Effects of Media Implication on Self-Report Symptoms Related With MP Use (MP = Mobile Phone). Auch die Chinesen testeten die Wirkung alarmierender Medienberichte, indem sie der Fallgruppe (321 Personen) ein fünf Minuten dauerndes Video zeigten (Titel: "Elektromagnetische Strahlung - ein versteckter Killer ist unter uns"), der Kontrollgruppe (353 Personen) hingegen nicht. Anschließend hatten die Teilnehmer beider Gruppen Fragebögen auszufüllen, in denen sie über selbstdiagnostizierte körperliche Beschwerden berichten sollten und mit dem "Beck-Depressions-Inventar" (BDI), das ist ein psychologisches Testverfahren, die Schwere depressiver Symptome erfasst wurde. Teilnehmer der Doppelblindstudie waren 703 Studenten, zur Auswertung gelangten 674 gültige Fragebögen von 544 Männern und 130 Frauen. Die Teilnehmer benutzten eigenen Angaben zufolge durchschnittlich seit 5,68 ±2,03 Jahre ein Mobiltelefon, die durchschnittliche tägliche Nutzungsdauer lag bei 18,97 ±17,15 Minuten und die Anrufhäufigkeit bei durchschnittlich 17,49 ±2,05 Telefonanrufen pro Woche. Signifikante demografische Unterschiede zwischen der Fall- und Kontrollgruppe sowie deren Nutzungsgewohnheiten für Mobiltelefone gab es nicht.

Das am häufigsten berichtete körperliche Symptom war Müdigkeit (41,4 %), gefolgt von Unaufmerksamkeit (35,2 %) und Gedächtnisverlust (30,9 %). In der Videogruppe wurden alle körperlichen Symptome häufiger gemeldet als in der Kontrollgruppe. Darüber hinaus war die Prävalenz von Kopfschmerzen, Müdigkeit, Gedächtnisverlust und Unaufmerksamkeit in der Videogruppe signifikant höher und signifikant auf das Ansehen des Videos zurück zu führen. Aber: Da nur wenige Teilnehmer schwere und mittelschwere Symptome berichteten und selten hohe BDI-Werte zeigten, stufen die Autoren die Auswirkungen des Videos als nur sehr gering ein.

Die Autoren empfehlen, wie schon acht Jahre zuvor ihre europäischen Kollegen, die engere Zusammenarbeit zwischen sozialen Medien und wissenschaftlichen Organisationen, um glaubwürdigere und sachdienlichere Gesundheitsinformationen über die Verwendung von Mobiltelefonen bereitzustellen. Ein frommer Wunsch. Denn das jüngste typische Beispiel der Passauer Neuen Presse zeigt, traditionelle Medien der zweiten und dritten Klasse schüren unbeeindruckt von solchen Appellen an die Verantwortung mit unqualifizierter Berichterstattung weiterhin irrationale Bedenken gegenüber Mobilfunk. Das Universal-Feigenblatt für dieses Versagen, das bevorzugt aufgrund von außen einwirkender Impulse stattfindet (z.B. Berichte über sogenannte Informationsveranstaltungen zum Risiko Mobilfunk, Berichte über selbstdiagnostizierte "Elektrosensible", Berichte über medienaffine Akteure der Anti-Mobilfunk-Szene), ist die Berufung auf die Meinungsfreiheit. Tatsächlich dürfte das Motiv eher in der wirtschaftlich angespannten Situation vieler Medienhäuser zu sehen sein, was dazu führt, dass Medien mit allen Mitteln versuchen, die Leser-Blatt-Bindung zu festigen. Über das Versagen öffentlich-rechtlicher Medien im gleichen Kontext bietet das IZgMF-Forum diesen Strang mit konkreten Beispielen an, wobei anzumerken ist, dass die Häufigkeit öffentlich-rechtlicher Desinformation zum Risiko Mobilfunk zuletzt (gefühlt) fallende Tendenz aufweist.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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