[...] ein gewisser Tilo Gräser (Autor) hat sich aufgemacht, das www nach knackigen Verlautbarungen des 97-Jährigen zu durchforsten und daraus einen Alarmcocktail zu mixen, der das Vertrauen der Deutschen in die seriöse Wissenschaft untergraben soll.
Auszug aus dem Artikel:
[...] Im Gespräch mit RT DE berichtet er, dass er in den 1990er-Jahren ein privates Stressinstitut gegründet hatte. Dieses habe vom einstigen Bundesamt für Post und Telekommunikation, der heutigen Bundesnetzagentur, einen Auftrag für eine Recherche in der sowjetisch-russischen Fachliteratur von 1960 bis 1996 bekommen. Dabei sei es um den Einfluss von Funkwellen, elektromagnetischer Wellen (EMF-Wellen) von null bis Gigahertz, auf biologische Prozesse gegangen.
Doch die daraus entstandene Studie mit etwa 120 Seiten sei "sofort im Archiv verschwunden", erinnert sich Hecht. Auch eine geplante Präsentation beim zuständigen Bundesumweltministerium hat nie stattgefunden. Der Grund: Das Ergebnis entsprach nicht den Vorstellungen der Auftraggeber. Die wollten anscheinend nichts darüber nach außen dringen lassen, dass schon in der Sowjetunion festgestellt wurde, dass selbst elektromagnetische Wellen niedriger Frequenz, weit unterhalb aller westlichen Grenzwerte, dauerhafte gesundheitliche Schäden verursachen können. [...]
RT und Hecht bedienen hier das beliebte Klischee, einem Auftraggeber unbequeme Studienresultate würden der Öffentlichkeit in böser Absicht vorenthalten. Ein Beispiel dafür aus der Anti-Mobilfunk-Szene ist die "Ecolog-Studie" des Jahres 2000. Jahrelang hielt sich in der Szene die Behauptung, die Telekom-Tochter T-Mobil, Auftraggeber der Studie, habe deren Veröffentlichung (durch das Ecolog-Institut) unterdrücken wollen. Erst 2007 stellte sich nach einer Recherche der IZgMF-Forumteilnehmerin "Doris" heraus, dass die Behauptung frei erfunden ist.
Im Auftrag des Bundesministeriums für Telekommunikation sichtete Hecht russische EMF-Studien und legte seine Metastudie ("Biologische Wirkungen Elektromagnetischer Felder im Frequenzbereich 0 bis 3 GHz auf den Menschen") 1997 dem Auftraggeber vor. Da Hecht für seine Arbeit ein Honorar erhielt, gingen sämtliche Rechte an der Studie an den Auftraggeber über. Das ist gängige unaufgeregte Praxis. Das Ministerium konnte also mit der Studie machen was es wollte, diese z.B. den eigenen Mitarbeitern, die mit EMF befasst sind, zur Kenntnisnahme aushändigen. Wieso Hecht nachträglich glaubte, seine Auftragsarbeit würde womöglich im Rahmen eines Festakts im Fernsehen der Öffentlichkeit präsentiert oder organisierten Mobilfunkgegnern zu Weihnachten als Geschenk überreicht, erschließt sich mir nicht. Vielleicht ist der alte Herr aber so frei, seine Kritiker ein für allemal zum Schweigen zu bringen, indem er den Vertrag im www offenlegt, den er seinerzeit mit dem Ministerium schloss. Die nichtssagende Auftragsnummer (4231/630 402) hat er immerhin schon preisgegeben.
Vier Jahre nach Abgabe seiner Metastudie veröffentlichte Hecht 2001 in der Zeitschrift Umwelt - Medizin - Gesellschaft (UMG) auf zehn Druckseiten eine komprimierte Fassung. Mutmaßlich ging dies nur mit Genehmigung des Ministeriums. Der Haken daran: UMG ist ein wissenschaftlich völlig bedeutungsloses Blatt, wer dort publiziert kann sicher sein, Kritik von Wissenschaftlern aus dem Weg zu gehen. Psiram hat sich des Blattes mit einem Beitrag angenommen, der inzwischen allerdings veraltet ist.
Sechs Jahre nach Abgabe der Hecht-Studie werden 2003 im Deutschen Bundestag ihre Befunde in einem Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung gemeinsam mit acht anderen Metastudien zum selben Thema vergleichend bewertet. Dazu wurden den Befunden für rd. zwei Dutzend untersuchte Effekte (Schlafverhalten, DNA-Brüche ...) die vier Evidenzklassen "Nachweis" (Evidenz stark), "Verdacht" (halbe-halbe), "Hinweis" (Evidenz schwach) und "keine Evidenz" zugeordnet. Dann wurde pro Metastudie geprüft, wie häufig dort welche Evidenzklasse auftrat.
Auffällig bei der Hecht-Studie war, dass seine Befunde bis auf eine Ausnahme alle als Hinweise eingestuft wurden. Die Ausnahme war "Elektrosensibilität". Als einziger Autor wurde sein EHS-Befund unter Verdacht eingestuft, alle anderen Autoren befanden dafür schwache oder keine Evidenz. Hecht war also schon 1997 mehr als andere der Meinung, es könnte "Elektrosensibilität" geben. Ebenfalls auffällig bei Hecht: Er war der einzige Autor, der bei allen von ihm untersuchten Effekten Evidenz feststellte, keine Evidenz gab es bei ihm nicht. Allerdings auch keinen einzigen Nachweis.
Fazit: Hechts Metastudie lieferte mit den unspektakulären Evidenzklassen Hinweis (für 90 Prozent der von ihm untersuchten Effekte) und Verdacht (für die restlichen 10 Prozent) dem Ministerium keine Aufsehen erregende Entscheidungshilfe. Er blieb mit seiner Untersuchung von 878 EMF-Studien, die zwischen 1960 und 1996 in Russland erschienen, im dichten Bodennebel der Ungewissheit stecken. Dies will so gar nicht zu seinen jüngeren dramatischen Äußerungen über seine alte Metastudie passen, erklärt aber widerspruchsfrei, warum diese Arbeit vermutlich im Keller eines Bundesministeriums friedlich schlummert und nur von einer handvoll mobilfunkkritischer Laien aus Hechts Entourage hin und wieder zitiert wird.
Tipp: Meine Bemühungen, den Vergleich der neun Metastudien oben mit Hilfe von Evidenzklassen in Sachprosa zu schildern, sind aus Zeitmangel nicht gut gelungen. Im verlinkten Bericht des Ausschusses ist der Sachverhalt übersichtlicher und verständlicher ab Seite 33 mit den Tabellen 7 und 8 sowie den zugehörigen Fließtextpassagen dargestellt. Die Definitionen der Evidenzklassen (gemäß SSK, 2001) stehen auf Seite 31.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –