Adlkofers Märchenstunde auf russischem Propagandakanal (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 15.12.2019, 18:03 (vor 1612 Tagen)

Franz Adlkofer, Säulenheiliger der internationalen Anti-Mobilfunk-Szene, demonstriert in einem Interview mit dem russischen YouTube-Kanal RT Deutsch seine profunden Kenntnisse über die Grenzwerte für elektromagnetische Felder. Die folgende Passage spielt sich ab Minute 10:43 ab:

Interviewerin: Und das sind dieselben Grenzwerte, die wir heute in 2019 haben?

Adlkofer: Das gilt für diese Grenzwerte – genauso wie es damals war, auch heute noch. Damals, vor 70 Jahren – in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts – war es so, dass die Grenzwerte für die amerikanischen Militärs notwendig waren. Sie brauchten die hohen Grenzwerte, die wir heute haben, unbedingt, um ihre Waffensysteme in Gang zu halten.

Stimmt das, was Adlkofer im Brustton der Überzeugung vorträgt?

Machen wir den Faktencheck!

Eine frühe EMF-Monographie der WHO aus dem Jahr 1981 gibt ab Seite 90 Auskunft, welche HF-Exposition in den USA ab 1966 im Frequenzbereich 10 MHz bis 100 GHz für Armeeangehörige als zulässig erachtet wurde:

[...] The third group of standards may be illustrated by the 1966 US Army regulations (Polmisans & Peczenik, 1966), The American National Standards Institute Standard (ANSI, 1966) and recommendations of the American Conference of Governmental Industrial Hygienists (ACGIH, 1971, 1979). Fig. 19 presents a comparison of these standards with the Bell Telephone recommendations (Weiss & Mumford, 1961). The US Army Standard is obviously intended as an occupational safety RPG to microwaves and RF. Unlimited exposure is allowed at levels below 10 mW/cm² but exposure at power densities higher than 100 mW/cm² is considered dangerous. Within the range of 10 -100 mW/cm², exposure is allowed for a limited time [...]

Der Quelle zufolge galt in den USA ab den 1960ern also eine unbefristete berufliche Exposition bis zu 10 mW/cm² (entspricht 100 W/m²) als gesundheitlich unbedenklich. Eine höhere Exposition bis 1000 W/m² war nur zeitlich befristet zulässig. Erst 1979 schickten sich die USA an (Ansi, American National Standards Institute), den Grenzwert von 10 mW/cm² im Frequenzbereich 30 MHz bis 300 MHz auf 1 mW/cm² (10 W/m²) zu senken. Grenzwerte für die Bevölkerung der USA gab es damals noch nicht, ebenso wenig öffentlichen Mobilfunk. Allerdings gab es ab 1970 eine Emissionsbegrenzung (US Code of Federal Regulations) für Mikrowellenöfen, die, in 5 cm Abstand zur Oberfläche des Geräts gemessen, nicht mehr als 1 mW/cm² Leckstrahlung abgeben durften.

Gemäß Franz Adlkofer gelten die US-Grenzwerte aus den 1960ern genauso (für uns) noch heute. Eine Unterscheidung zwischen beruflicher und privater Exposition trifft Adlkofer nicht. Zu seinen Gunsten nennt der folgende Vergleich deshalb zunächst die höheren Grenzwerte für beruflicher Exposition damals und heute.

Das EMF-Portal schreibt: Am Arbeitsplatz gelten besondere Regelungen. Hier dürfen die Grenzwerte der Exposition der Allgemeinbevölkerung überschritten werden. Auf europäischer Ebene trat am 26. Juni 2013 die EU-Richtlinie 2013/35/EU über „Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen (elektromagnetische Felder)“ in Kraft. Die dort getroffenen Festlegungen sollen von allen EU-Mitgliedsländern durch entsprechende Rechts- oder Verwaltungsvorschriften bis zum 1. Juli 2016 in nationales Recht umgesetzt werden. Die Festlegungen stützen sich auf die Empfehlungen der International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection (ICNIRP).

Die gegenwärtig in der EU geltenden Grenzwerte für berufliche Exposition sind der folgenden Tabelle zu entnehmen (Spalte rechts, Leistungsdichte):

[image]
Quelle: EMF-Portal

Die Tabelle widerlegt Adlkofer, denn sie zeigt, die heute zulässige berufliche Exposition in Europa ist durchweg merklich niedriger als die in den 1960ern in den USA zulässige:

..30 MHz bis 400 MHz: 10 W/m² (USA: 100 W/m², befristet 1 kW/m²)
400 MHz bis 2 GHz: f/40 = 10 W/m² bis 50 W/m² (USA: 100 W/m², befristet 1 kW/m²)
....2 GHz bis 300 GHz: 50 W/m² (USA: 100 W/m², befristet 1 kW/m²)

Da sich Franz Adlkofer nicht ums Wohl der Militärs sorgt, sondern mutmaßlich ums Wohl der Bevölkerung, sei ein Vergleich der alten US-Grenzwerte von 1966 für beruflich Exponierte mit den gegenwärtig in Europa zulässigen Grenzwerten für die Bevölkerung erlaubt. Der Fortschritt im Schutz der Bevölkerung wird hierbei besonders deutlich, ebenso Adlkofers Veräppelung seiner Interviewerin:

..10 MHz bis 400 MHz: 28 V/m x 0,073 A/m = 2,04 W/m² (USA: 100 W/m², befristet 1 kW/m²)
400 MHz bis 2 GHz: (1,37 x √f) x (0,0037√f) = z.B. 4,5 W/m² bei 900 MHz (USA: 100 W/m², befristet 1 kW/m²)
....2 GHz bis 300 GHz: 9,76 W/m² (USA: 100 W/m², befristet 1 kW/m²)

Noch Fragen?

Der Vollständigkeit halber hier noch aus der alten WHO-Monografie die damalige wissenschaftliche Begründung für die hohen US-Grenzwerte des Jahres 1966:

These [...] recommendations are based on human thermal balance characteristics contained in the studies by Schwan & Piersol (Schwan, 1978; Schwan & Piersol, 1954, 1955) on the biophysical and physiological aspects of the absorption of electromagnetic energy in body tissues. These views (Schwan, 1976) can be presented briefly as follows:

► the principal effects of microwaves consist of temperature increases in the irradiated object;
► because of heat balance characteristics in man, indefinite exposure to 10 mW/cm² is possible, higher values may be accepted for short-term exposure;
► the formation of cataracts or lenticular opacities cannot be expected at power densities below 100 mW/cm²;
► biophysical considerations exclude the possibility of micro-wave interaction with nerve cells;
► there is no evidence of untoward effects of microwave radiation in man at power densities below 10 mW/cm².

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Adlkofer, Verlautbarungsjournalismus, Faktencheck, ICNIRP-Empfehlung, RTDeutsch, Monografie


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