Brief an das Bafu: Reflexionen über reflektierte Reflexionen (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Samstag, 21.10.2023, 23:12 (vor 490 Tagen) @ H. Lamarr

André Masson, Physiklehrer im Ruhestand und anerkannter Wärmebildquerulant in der Schweiz, echauffiert sich auf der Gigaherz-Website, bei drei neu ausgeschriebenen Antennenprojekten in Langenthal verlange die Fachbehörde des Kantons Bern überraschenderweise keine Abnahmemessungen mehr an Omen (Orte mit empfindlicher Nutzung). Die zuständige kantonale Behörde kann, muss aber nicht, eine solche Abnahmemessung anordnen, wenn die berechnete Immission an einem Omen den Anlagengrenzwert (5 V/m) zu mehr als 80 Prozent ausschöpft.

Das Ausbleiben von Abnahmemessungen beschäftigt Masson noch immer. Im Kanton Bern soll nicht einmal mehr in Wohnungen gemessen werden, deren Strahlungsprognose auf 4,95 V/m und 4,99 V/m lautet, was weit über der 80-Prozent-Marke wäre. Damit, so Masson, könne man nicht mehr sagen, ob die gesetzlichen Anlagegrenzwerte eingehalten werden oder nicht. Der Ex-Physiklehrer erkennt darin eine krasse Verschlechterung der Lage. Sein Brief an das Bafu (Bundesamt für Umwelt) blieb ihm zufolge unbeantwortet und auf Nachfrage, ob noch etwas komme, soll das Amt weiterhin stumm geblieben sein.

Das Bafu könne seine Fragen nicht beantworten glaubt Masson und veröffentlichte seinen Brief an die Behörde auf der Gigaherz-Website in der Hoffnung, damit in anderen Kantonen eine andere Entwicklung einzuleiten. Ich meine, der gelernte Physiker hofft vergeblich, denn das Ausbleiben von Abnahmemessungen ist keineswegs eine krasse Verschlechterung der Lage.

Begründung

Masson begründet sein Drängen auf Beibehaltung der Abnahmemessungen mit unberechenbaren Signalreflexionen, welche dazu führten könnten, dass knapp eingehaltene Anlagegrenzwerte überschritten werden. Er folgt damit der jüngsten fixen Idee des Gigaherz-Präsidenten, was wiederum keine gute Idee ist, denn der Ex-Elektriker versteht von Funkmesstechnik mMn noch weniger als der Ex-Physiklehrer. Die Bedenken der beiden selbsternannten Experten sind Retortenbabys, die grundsätzliche Aspekte der Abnahmemessungen völlig außer Acht lassen.

► Der wichtigste Aspekt lautet: Die Anlagegrenzwerte sind keine Gefährdungswerte (auch wenn Jakob in Bezug auf oxidativen Stress ebenso gerne wie unqualifiziert das Gegenteil behauptet), sondern Vorsorgewerte. Mit deren (begrenzter) Überschreitung sind für die Bevölkerung keinerlei nachgewiesene Gesundheitsgefährdungen verbunden, sondern lediglich die (begrenzte) Reduzierung eines äußerst dicken Sicherheitspolsters.

► Was könnte nun so eine begrenzte Überschreitung der Anlagegrenzwerte sein? Die HF-Messtechnik gibt mit der erweiterten Messunsicherheit eine anerkannte Antwort: ±45 Prozent des Messwerts. Heißt im Klartext: Wenn eine Abnahmemessung 4,99 V/m ergibt, dann liegt die unbekannte tatsächliche Immission irgendwo im Wertebereich zwischen 3,45 V/m und 7,24 V/m. Und welche Sorgen plagen Masson? Er fürchtet, eine berechnete Maximalimmission von 4,99 V/m könne infolge Reflexionen in der realen Welt unerkannt auf z.B. 5,09 V/m anwachsen. Ohne Messung würde das niemand bemerken. Stimmt, wie schrecklich :-). Mit Blick auf die Messunsicherheit ist auch Massons Vorschlag an das Amt, die zulässige berechnete Maximalimmission zur pauschalen Berücksichtigung von Reflexionen vorsorglich von 5 V/m auf 4,1 V/m zu senken, völlig daneben. Denn selbst bei 4,1 V/m kann die Messunsicherheit noch immer eine tatsächliche Immission verbergen, die den Anlagegrenzwert um rd. 1 V/m überschreitet.

Weil eine unerkannte Überschreitung der Anlagegrenzwerte um ±45 Prozent für die Bevölkerung kein Risiko bedeutet, wird die Messunsicherheit bei Abnahmemessungen ignoriert, es gilt der Messwert, den das Messgerät anzeigt (siehe auch nächsten Punkt). Diese Praxis wäre beim Immissionsgrenzwert (Icnirp-Grenzwert) jedoch fahrlässig, da dieser (in der Schweiz) als Gefährdungswert eingestuft wird, obwohl auch darin ein Sicherheitsfaktor von Sieben (bezogen auf elektrische Feldstärke) gegenüber nachgewiesenen Gesundheitsauswirkungen enthalten ist. Bei Messungen im Bereich des Immissionsgrenzwerts wird die erweiterte Messunsicherheit von +45 Prozent deshalb nicht ignoriert, sondern auf den Messwert aufgeschlagen.

► Jakob und Masson unterschlagen schließlich und endlich den Aspekt, dass bei Abnahmemessungen der abgelesene Messwert noch nicht eine Beurteilung auf Einhaltung des Anlagegrenzwerts erlaubt, denn der Messwert hängt von der momentanen Auslastung des gemessenen Funkmasten ab. Deshalb wird zur Beurteilung der Messwert auf maximale Anlagenauslastung hochgerechnet. Maximale Auslastung erreichen Funkmasten üblicherweise nur tagsüber während der Geschäftszeiten, nicht nachts. Massons dramatisches Reflexionsszenario mit Grenzwertüberschreitung wirkt ergo, sollte es überhaupt existieren, nicht ständig auf Anwohner ein, sondern nur gelegentlich tagsüber.

► Die Schutzwirkung der Anlagegrenzwerte ist keineswegs erwiesen, wie eine einfache Gegenüberstellung des Krebsgeschehens (Hirntumoren) in der Schweiz und europäischen Staaten ohne Vorsorgewerte zeigt.

Fazit: Aus meiner Sicht täte den beiden selbsternannten Experten in der Schweiz eine Selbstreflexion von mindestens –45 Prozent außerordentlich gut.

Hintergrund
Gibt es in der Schweiz die rechtlich geduldete Grenzwertüberschreitung?
Externer Cybermobber beim BAFU? :-)
Keine Ruhe im Departement Umwelt-Verkehr-Kommunikation :-)

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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