Hirntumoren in CH: Anlagegrenzwerte ohne Schutzwirkung? (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 16.07.2023, 23:33 (vor 495 Tagen) @ H. Lamarr

Schon seit mehr als 20 Jahren haben die Schweizer ihre heiligen Anlagegrenzwerte. Deutsche, Franzosen, Briten, Amerikaner und mehr als 100 andere Völker haben hingegen nur die Immissionsgrenzwerte. Und, sind die Schweizer heute gesünder als die anderen oder die anderen kränker als die Schweizer? Nicht dass ich wüsste, doch das könnte man ja mal ernsthaft untersuchen lassen. Unendlich schwierig sollte das nicht sein, wenn man sich z.B. nur auf Krebs bezieht. Denn die von Mobilfunkgegnern so hoch geschätzte 2B-Eingruppierung von Iarc gilt nicht für irgendwelche Krebse, sondern nur für Tumoren im Hirn und im Zentralen Nervensystem eines Menschen. Das sollte doch einen überschaubar komplizierten Vergleich der altersstandardisierten Tumor-Inzidenzen in der Schweiz gegenüber möglichst schweizähnlichen Ländern ohne Anlagegrenzwert zulassen. Zeigen sich statistisch signifikante Unterschiede zugunsten der Schweiz, haben die Anlagegrenzwerte möglicherweise die gewünschte Wirkung. Andernfalls wohl nicht. Mir ist klar, dass allerlei Nebeneffekte einen messerscharfen Vergleich erschweren, dennoch könnte man mMn wenigstens mal hinschauen, ob es da etwas zu entdecken gibt ...

Da mein Vorschlag offensichtlich niemanden interessiert, habe ich kurz gegoogelt und auf Anhieb den Schweizerischen Krebsbericht 2021 gefunden. Was dieser über Krebs des Gehirns und Zentralnervensystems berichtet, lässt mich an der Schutzwirkung der Anlagegrenzwerte erheblich zweifeln. Denn es ist keineswegs so, dass die Schweiz bei der Inzidenzrate für Hirntumoren besser dasteht als andere Länder. Derzeit trifft eher (noch) das Gegenteil zu.

Die folgende Grafik sagt eigentlich schon alles, wer sie größer und schärfer sehen möchte, findet sie auf Seite 97 des Krebsberichts.

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Grafik: Schweizerischer Krebsbericht 2021

Da kann man schon ins Grübeln kommen. Im internationalen Vergleich von zehn europäischen Ländern hatte 2018 nur Frankreich eine höhere Inzidenzrate für Hirntumoren als die Schweiz. Die niedrigste (bei Männern) hatte Österreich, dessen Bewohner keine Anlagegrenzwerte haben, sondern die Icnirp-Grenzwerte. Auch Frankreich hat die Icnirp-Grenzwerte, die Mobilfunknetzbetreiber dort sind jedoch seit 2015 gehalten, eine maximale Immission von 6 V/m nicht zu überschreiten. Anscheinend ist auch diese gut gemeinte Vorsorgemaßnahme für die Katz'. Warum? Weil die zeitliche Entwicklung der (anhand der Krebsregisterdaten geschätzten) Hirntumor-Inzidenraten in der Schweiz von 1988 bis 2017 überhaupt keine Korrelation mit der Einführung des GSM-Massenfunks (1993) in dem Alpenstaat zeigt.

Da ich kein Wissenschaftler bin, behaupte ich vorbehaltlich des Irrtums, der Schweizerische Krebsbericht 2021 gibt gegenwärtig keinerlei Anhaltspunkte dafür, die Eidgenossen wären mit den im Jahr 2000 eingeführten Anlagegrenzwerten besser gegen Hirntumoren geschützt als ohne. Da es offensichtlich keine gesicherten Werte für die Latenzzeit von Hirntumoren gibt, sind mittlerweile rd. 23 Jahre Geltungsdauer der Anlagegrenzwerte ein Wert, der sich in den Inzidenzraten bemerkbar machen müsste – wenn die Anlagegrenzwerte Wirkung hätten. Und tatsächlich ist die Inzidenz zuletzt in der Zeitspanne 2013 bis 2017 bei Schweizern und Schweizerinnen schon leicht zurück gegangen. Dies kann aber eine normale Schwankung sein, wie sie auch früher auftrat. Ergo müssen die kommenden drei oder vier Krebsberichte für die Schweiz abgewartet werden, ob sich dort bei der Hirntumorinzidenz ein Trend nach unten erkennen lässt. Ist dies der Fall, deutet es in erster Näherung darauf hin, dass ich mich mit meiner Behauptung geirrt habe, die Anlagegrenzwerte hätten keine Schutzwirkung gegen Hirntumoren. Aus heutiger Sicht halte ich einen solchen Trend jedoch für unwahrscheinlich, denn die Schweiz ist beileibe nicht das einzige Land, deren Hirntumorstatistiken keinerlei Korrelation mit der Einführung des Massenfunks zeigen. Der von organisierten Mobilfunkkritikern behauptete Kausalzusammenhang zwischen Funkeinwirkung und Hirntumoren steht auf wackligen Beinen und selbst wenn Iarc 2024 das Hirntumorrisiko infolge Funkexposition hochstufen würde (von "möglicherweise" krebserregend z.B. auf "wahrscheinlich" krebserregend), ändert sich daran im Alltag nicht viel, denn die Iarc-Eingruppierung trifft keinerlei Aussage, wie hoch das Krebsrisiko dann ist. Eine beim Mobilfunk übliche Exposition kann dann trotzdem gesundheitlich unbedenklich sein!

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Mir ist es egal, ob die Schweiz an ihren Anlagegrenzwerten festhält, diese lockert oder aufgibt. Was mir gegen den Strich geht ist nur die Sturheit, mit der nicht wenige Schweizer Politiker den Anlagegrenzwerten den unantastbaren Staus einer heiligen Kuh zugestehen. Wenn sich die Anlagegrenzwerte als unnötige Vorsorgemaßnahme herausstellen, nach weltweit 30 Jahren digitalen Massenfunk gibt es dafür Hinweise, sollten Politiker mMn auch mal in der (desinformierten) Bevölkerung unpopuläre aber vernünftige Entscheidungen wagen :yes:.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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