Funkmastbewilligung: Bombe erweist sich als Knallfrosch (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 01.10.2023, 15:05 (vor 224 Tagen) @ H. Lamarr

Alle Medienberichte stützen sich auf die sogenannte Medienmitteilung von "Wir". Und es gibt noch einen gemeinsamen Nenner: Keiner verlinkt auf das Original des Urteils, auch "Wir" nicht. Das ist anrüchig, denn auf diese Weise lässt sich durch irreführende Interpretation eines Urteils ungestört Desinformation verbreiten wie dieser Vorfall eindrucksvoll belegt. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hält sich mit einer Veröffentlichung des fraglichen Urteils überraschenderweise ebenfalls zurück und begünstigt damit die möglicherweise verzerrte Darstellung durch organisierte Mobilfunkgegner.

Mit der Dossiernummer 100.2021.300U ist das Urteil vom 21. August 2023 beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern online nicht zu finden, mit dem Suchbegriff "adaptive Antennen" hingegen schon seit 14. September 2023.

Wie erwartet entlarvt das Urteil das Trio Gigaherz-Jakob, Daniel Laubscher und Christian Oesch mit seinem Verein "Wir" als Schweizer Blähboys. Es stützt in keiner Weise die dramatisch überhöhte Darstellung des Trios und der Medien, die darauf hereingefallen sind.

Wie im Urteil nachzulesen ist, waren sich die Streitparteien bereits uneins, ob die neuen adaptiven Antennen in ästhetischer Hinsicht das Erscheinungsbild des Funkmasten nachteilig ändern. Aus Sicht der Beklagten ist dies nicht der Fall, belegt mit Fotos des Funkmasten vor und nach dem Antennentausch. Der Beschwerdeführer (Laubscher) macht demgegenüber sinngemäss geltend, die Änderung am Funkmasten verändere den «Raum äusserlich erheblich». Er geht davon aus, dass gegenüber den bisherigen doppelt so große Antennenkörper montiert worden seien. Indes, das Gericht schloss sich begründet der Einschätzung der Beklagten an.

Der Knackpunkt im Urteil aber gilt der Frage, ob die mit der Umrüstung verbundene nutzungsmäßige
Änderung (Betrieb der Antennen nach dem neuen Standortdatenblatt) der Baubewilligungspflicht untersteht, wie es Laubscher geltend macht. Hierzu führte das Gericht zunächst aus:

[...] Gemäss dem am 1. Januar 2022 in Kraft getretenen Anhang 1 Ziff. 63 Abs. 2 NISV ist es neu möglich, der Variabilität der Senderichtung bei adaptiven Antennen durch Anwendung eines sog. «Korrekturfaktors» Rechnung zu tragen. Dieser beruht auf statistischen Studien über die tatsächliche Strahlungsexposition und soll sicherstellen, dass adaptive An- tennen nicht strenger beurteilt werden als konventionelle Antennen. Den Angaben des AUE [Amt für Umwelt und Energie des Kantons Bern] im vorinstanzlichen Verfahren zufolge erlaubt der Korrekturfaktor eine deutlich höhere Sendeleistung als die im Standortdatenblatt ausgewiesene. Möglich seien kurze Überschreitungen der bewilligten Sendeleistungen bis zu einem Faktor 10 und somit auch der deklarierten Strahlenbelastung an Orten mit empfindlicher Nutzung (OMEN) um einen Faktor 3,2. Im 6-Minuten-Mittel würden die bewilligten Leistungen und deklarierten Feldstärken aber immer eingehalten. [...]

Dann wird es kompliziert (Abschnitt 5.6 des Urteils). Denn im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht stellte sich heraus, die Gemeinde habe als Baupolizeibehörde zwar festgestellt, der Antennenaustausch sei nicht baubewilligungspflichtig, was die Vorinstanz bestätigt habe. Beide Behörden seien dabei von einer «worst case»-Beurteilung ausgegangen. Mit Zustimmung des AUE vom 9. November 2022 sei bei der umstrittenen Anlage [später] jedoch neu ein Korrekturfaktor angewendet worden. Die Frage nach der Baubewilligungspflicht stelle sich daher dem Verwaltungsgericht mit Blick auf einen veränderten Sachverhalt. Namentlich unterschieden sich die umweltrechtlich relevanten Immissionen bei der Anwendung des Korrekturfaktors von denjenigen bei der Anwendung der «worst case»-Beurteilung. Dem angefochtenen Entscheid liege demnach ein aus heutiger Sicht unrichtiger Sachverhalt zugrunde.

Obige Textpassage ist aus meiner Sicht der tatsächliche Grund, warum das Verwaltungsgericht mit seinem Urteil die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz (Bau- und Verkehrsdirektion des Kantons Bern, BVD) zurück verwiesen hat. Denn die weiteren Ausführungen des Gerichts gehen klar zulasten des Beschwerdeführers Laubscher:

[...] Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers haben weder das Verwaltungsgericht noch das Bundesgericht abschliessend geklärt, wie es sich mit der Baubewilligungspflicht bei Änderungen mit Korrekturfaktor verhält. Auch die Vorinstanz, hat sich soweit ersichtlich bisher nicht dazu geäussert. Es ist nicht Sache des Verwaltungsgerichts, als letzte kantonale Instanz die Frage der Baubewilligungspflicht eines Antennenaustauschs mit Anwendung des Korrekturfaktors erstmals zu beantworten. Dazu ist das Verwaltungsgericht funktionell nicht berufen, gilt es doch, die konkrete prozessuale Konstellation erstmals zu beurteilen. [...]

Hinweis: Die hier zitierten Textpassagen aus dem Urteil enthalten im Original Querverweise zu Quellen, die ich der besseren Lesbarkeit wegen weggelassen habe.

Fazit: Vergleicht man die Aussagen des Urteils mit dem, was das aufgeregte Trio organisierter Mobilfunkgegner glaubt, in das Urteil hineininterpretieren zu können (siehe Startposting), bleibt von der angeblichen Bombe, welche die gesamte Schweiz erschüttern könnte, nur ein Knallfrosch übrig. Peinlich besonders für den schrägen Internetsender Hoch2, der sich eigenen Angaben zufolge "der Wahrheit verpflichtet" sieht, von selbiger aber zumindest im konkreten Fall weiter weg ist als der Mond von der Erde. Die Sendung ist schlichter Verlautbarungsjournalismus, Hoch2 nicht mehr als ein Sprachrohr des Vereins "Wir".

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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