Faktencheck: Können Smartphones Grauen Star verursachen? (II) (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Freitag, 21.04.2023, 17:46 (vor 387 Tagen) @ H. Lamarr

Der Praxisbericht des Augenarztes zeigt viele Schwächen. So bemüht er sich, einen allgegenwärtigen natürlichen Auslöser von Grauem Star nicht beim Namen zu nennen. Lieber beschreibt er Spezialfälle wie Röntgenstrahlung und Katarakte, die durch unvorsichtiges Hantieren im Nahfeld von Radarantennen entstanden sind. Mit den Radarantennen konditioniert der Autor die Leser behutsam in Richtung künstlich erzeugter Strahlung, zu der Laien auch gerne die Funkfelder des Mobilfunks zählen. Den natürlichen Auslöser UV-Strahlung aber benennt er nicht direkt, sondern nur vage indem er davon spricht eine Exposition mit "energiereichen Strahlen" könne die Linsentrübung auslösen. Die klare Aussage des BfS, übermäßige UV-Bestrahlung sei langfristig einer der auslösenden Faktoren für Grauen Star, verkneift sich der Augenarzt. Sie passt nicht in sein Konzept, schließlich will er den Verdacht auf Mobiltelefone lenken.

Dreh- und Angelpunkt von Roths Praxisbericht ist seine Behauptung:

[...] Bei der Nutzung eines Smartphones trifft ein Anteil der Strahlung direkt auf das nächstgelegene Auge. Aus der physikalischen Formel, die besagt, dass die Intensität einer Strahlung mit dem Quadrat der Entfernung zur Strahlenquelle abnimmt, folgt, dass das von der Strahlenquelle abgewandte Auge nur ein Viertel der Strahlenmenge im Vergleich zum anderen
Auges trifft. [...]


"Physikalische Formel" mit Fallstricken

Die "physikalische Formel", von der Roth spricht, ist das Abstandsgesetz. Es beschreibt die Abnahme einer physikalischen Größe mit wachsender Entfernung zum Sender und besagt für Energiegrößen, zu denen elektromagnetische Felder zählen (magnetischer und elektrischer Feldvektor), dass deren Leistungsflussdichte mit zunehmendem Abstand (r) tatsächlich quadratische abnimmt (1/r²). Was Roth jedoch sträflich missachtet: Die Formel gilt nur bei ungestörter Feldausbreitung im freien Raum und auch nur im Fernfeld einer Sendeantenne (mindestens zwei Wellenlängen von der Antenne entfernt). Beide Randbedingungen sind bei einem Mobiltelefon, das am Kopf betrieben wird, nicht gegeben. Von Freiraumausbreitung kann keine Rede sein, weil zwischen der Sendeantenne des Telefons und den Augen nicht Luft ist, sondern ein Kopf. Auch die Fernfeldbedingung trifft nicht zu, denn bei 900 MHz wären zwei Wellenlängen 66 Zentimeter bei 2,6 GHz wären es immerhin nur noch 23 Zentimeter.

Wenn aber die "physikalische Formel" im konkreten Fall nicht gilt, was dann? Hier würde die Erörterung zu weit führen, wer möchte kann sich jedoch hier (Abschnitt "Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur du denkst") schlau machen.

Wir halten fest

Roths Behauptung, das von der Strahlenquelle abgewandte Auge träfe nur ein Viertel der Strahlenmenge im Vergleich zum anderen Auges, trifft nicht zu. Richtig ist, das von der Strahlenquelle abgewandte Auge wird wegen des größeren Abstands zur Strahlenquelle in aller Regel schwächer befeldet. Um wie viel schwächer lässt sich nicht verallgemeinern da die Abschwächung situationsbezogen von vielen Faktoren abhängt, unter anderem von der Antennenbauart, der Trägerfrequenz, der Form des Mobiltelefons, der Kopfform, von Reflexionen und mehr. Die Einschränkung "in aller Regel" gilt hauptsächlich für Innenräume. Denn dort herrscht wegen Signalüberlagerung mit Reflexionen eine chaotische Immissionsverteilung mit vielen Minima und Maxima, bei der es durchaus vorkommen kann, dass das von der Strahlenquelle abgewandte Auge temporär stärker befeldet wird als das zugewandte Auge. Unter diesen Umständen fehlt dem Praxisbericht immissionstechnisch jedoch die Grundlage.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Grauer Star, Smartphone, Faktencheck, realitätsfern, Abstandsgesetz


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