Faktencheck: Prof. Müggenborgs Behauptung über Icnirp (Allgemein)
Der Fall des Italieners Innocente Marcolini hallte ab 2009 weltweit durch die Echokammern und Filterblasen organisierter Mobilfunkgegner. Dem Mann wurde vor Gericht in zweiter Instanz Berufsunfähigkeit zugesprochen, da er aus Sicht der Richter wegen intensiven Gebrauchs von Funktelefonen einen gutartigen Hirntumor bekam. Über seine Niederlage 2008 in erster Instanz berichtete niemand. Noch 2021 wird das Urteil von einem deutschen Professor der Rechtswissenschaft dazu verwendet, Icnirp in ein schiefes Licht zu stellen. Ob zu Recht oder zu Unrecht klärt unser Faktencheck.
Seit geraumer Zeit ist es in der Anti-Mobilfunk-Szene Usus, beliebige negative Fundstücke über Icnirp auszugraben und öffentlich auf die Goldwaage zu legen. So geschehen vor wenigen Tagen auch im Gigaherz-Forum. Dort zitiert ein Teilnehmer aus dem Aufsatz eines Rechtsprofessors:
Alle stattgebenden Urteile haben die Aussagen von Vertretern von ICNIRP ausdrücklich unberücksichtigt gelassen, weil diese parteiisch seien. Die Vorbehalte gegen die Stellungnahmen dieser Organisation scheinen also begründet zu sein. [...]
Das Zitat stammt von Hans-Jürgen Müggenborg, einem organisierten Mobilfunkgegnern zugeneigten Juristen, gefallen ist es 2021 in dessen Artikel Das Vorsorgeprinzip beim Ausbau von G5 (juristische Fachzeitschrift Natur und Recht). Im Kontext lautet das Zitat dort:
[...] Eine ausführliche Studie hat sich mit den beruflichen Hintergründen der Mitglieder der ICNIRP befasst und so ein einseitiges Gewicht der Mobilfunkbranche offengelegt. Von einem solchen Verband sind kaum objektive Stellungnahmen zu erwarten. [34] So hat das Appellationsgericht (Berufungsgericht) im italienischen Bergamo mit Urteil vom 22.12.2009 (Az. 614/09) das gegenteilige Urteil des Landgerichts Brescia vom 15.5.2008 aufgehoben und dem Kläger wegen eines Gehirntumors eine 80 %ige Rente zugesprochen. In einem ähnlichen Fall hat das Appellationsgericht in Turin mit Urteil vom 3.12.2019 (Az. 904/2019) ebenfalls dem Kläger Recht gegeben und eine Entscheidung des Landgerichts Ivrea aus dem Jahr 2017 vollumfänglich bestätigt. Alle stattgebenden Urteile haben die Aussagen von Vertretern von ICNIRP ausdrücklich unberücksichtigt gelassen, weil diese parteiisch seien. Die Vorbehalte gegen die Stellungnahmen dieser Organisation scheinen also begründet zu sein. [...]
Wegen dieser Erfahrung mit Müggenborg machte ich mich auf zu prüfen, ob die rot markierte Textpassage den Tatsachen entspricht. Hätte ich vorher gewusst, auf was ich mich da einlasse, hätte ich es bleiben lassen.
Eine ausführliche "Studie" ...
Zuerst schaute ich zum Aufwärmen nach, was sich hinter Quelle [34] für eine "Studie" verbirgt. Wie erwartet ist es der dilettantische Buchner/Rivasi-Bericht, der von Müggenborg in den Rang einer Studie erhoben wird. Tatsächlich ist der Bericht, der im Auftrag der beiden überzeugten Mobilfunkgegner Klaus Buchner und Michèle Rivasi von bezahlten Fremdautoren verfasst wurde lediglich eine Internetrecherche, die auffindbare Anschuldigungen gegen Icnirp ohne jede Prüfung des Wahrheitsgehalts auf 98 Seiten einfach nur aneinanderreiht. Diese Gerüchtesammlung ohne Neuheitenwert eine Studie zu nennen ist aus meiner Sicht irreführend, zumal Icnirp es nicht einmal für erforderlich hielt, diesen kraftlosen Angriff zu parieren.
Berufungsgericht von Brescia nach Bergamo verlegt
Nächster Schritt: Das Urteil 614/09 des Appellationsgerichts Bergamo (entspricht in Deutschland einem Oberlandesgericht) im Originalwortlaut finden und auf Müggenborgs Behauptung hin prüfen. Das Urteil 614/09 zu finden war nicht schwierig und offensichtlich handelt es sich bei der Fundstelle auch um das richtige Urteil. Aber: Bei meiner Fundstelle entschied zweifelsfrei das Appellationsgericht in Brescia (bei Müggenborg ist es in Bergamo) und das Datum lautet auf 10. Dezember 2009 (bei Müggenborg auf 22. Dezember 2009). Da es in Bergamo kein Berufungsgericht gibt, sondern nur ein Land- oder Amtsgericht, wohl aber in Brescia, gehe ich davon aus, dass Müggenborg die beiden Instanzen irrtümlich vertauscht hat. So etwas kann passieren, lässt aber auf mangelnde Sorgfalt schließen.
Keine Belege für Müggenborgs Behauptung
Die Prüfung des Urteilstextes erwies sich nun schwieriger als erwartet. Denn das Urteil liegt nur als Scan vor, also als "Bild" und nicht als ASCII-Text. Da ich des Italienischen nicht mächtig bin, brauche ich jedoch unabdingbar ASCII-Text, um damit den Automatenübersetzer von deepl.com füttern zu können. Üblicherweise nimmt meine OCR-Software die Umwandlung eines Bildes in Text zufriedenstellend vor, diesmal aber war die Qualität des Bildes so schlecht, dass die OCR-Software einen von zahllosen Schreibfehlern durchsetzten italienischen Text ausgab.
Nach einigem hin und her konnte ich Seite 9 des Urteils als den Beginn der Ausführungen über Icnirp ausmachen, ab dort die gröbsten Schreibfehler im italienischen ASCII-Text berichtigen und deepl.com auf den Text ansetzen. Was mir der Übersetzungsautomat schließlich in deutsch anbot ist zwar nicht korrespondenzfähig, lässt jedoch eine ausreichend gute Deutung des Inhalts zu.
Müggenborgs Behauptung, die Aussagen von Vertretern von Icnirp wären "ausdrücklich unberücksichtigt gelassen" worden, weil diese "parteiisch" seien, konnte ich in dem Urteil weder sinngemäß und schon gar nicht wörtlich finden. Bei der Recherche im www fand ich ich diese Behauptung sinngemäß nur bei einer Urteilsinterpretation italienischer Anti-Mobilfunk-Aktivisten. Der deutsche Mobilfunkgegner Dr. med. Joachim Mutter haute bereits 2010 in dieselbe Kerbe und behauptete: "Das Urteil ist auch deshalb bahnbrechend, weil die Richter industriefinanzierte Gutachten als nicht glaubwürdig ausschlossen und sich nur auf industrieunabhängige stützten."
Auch Mutters Behauptung konnte ich in dem Urteil nicht finden. Mutmaßlich stützen sich Mutter und Müggenborg auf eine Icnirp-feindliche Sekundärquelle, die in den Text des Urteils etwas hinein interpretiert, was im Original nicht drinsteht.
Ahlbom vs. Kundi
Verbrieft ist: Das Appelationsgericht erwähnt eine Review von Ahlbom et al. 2004 und eine von Kundi et al. aus demselben Jahr. Während Ahlbom ein EMF-Krebsrisiko kategorisch verneinte, bejahte Kundi ein schwaches. Ein Jahr später lieferten sich Kundi und Ahlbom wegen der unterschiedlichen Ergebnisse einen kurzen Leserbriefwechsel.
Die Ahlbom-Review hat fünf Autoren, zwei davon (Ahlbom und Swerdlow) waren 2004 Mitglieder der Icnirp-Kommission. Mutmaßlich deshalb, und weil es in der Review heißt "This work was supported by the ICNIRP", wurde die Review vom Appelationsgericht und von anderen als Icnirp-Gutachten etikettiert.
Begriffe wie "parteiisch", "industrienah" oder "industrieunabhängig" kommen in dem Urteil nicht vor. Nur an einer Stelle taucht das Wort "unabhängig" auf (Seite 12):
[...] Außerdem sind die von Dr. Di Stefano zitierten Studien unabhängig im Gegensatz zur IARC-Studie, die von den Mobilfunkunternehmen mitfinanziert wurde. [...]
Mit IARC-Studie ist offenbar, dies geht aus dem Kontext hervor, eine WHO-Studie aus dem Jahr 2000 gemeint, die negative Auswirkungen von EMF-Exposition auf die Gesundheit ausschloss. Das Gericht wertete diese Studie aus mehreren Gründen nicht, wegen:
► veralteter Daten.
► Nichtberücksichtigung des seither viel intensiveren und weit verbreiteten Gebrauchs von Mobiltelefonen.
► der langen Latenzzeiten von Krebserkrankungen.
Ein Ausnahmefall schreibt Geschichte
Alles in allem entschied das Berufungsgericht gemäß Urteil zugunsten des Klägers, weil es sich bei diesem um einen Ausnahmefall handelt, um eine "individuelle" Situation, die von Experten als "probabilistisch-induktives Modell" und "schwache Kausalität" bezeichnet wird, die aber für eine Sozialversicherung von Bedeutung ist. Der Kläger telefonierte als Betriebsleiter ab September 1991 beruflich ungewöhnlich häufig mit Mobiltelefonen und Schnurlostelefonen, über zwölf Jahre hinweg durchschnittlich fünf bis sechs Stunden pro Arbeitstag. Als bei ihm ein Neurinom festgestellt wurde, beantragte der Betriebsleiter eine BU-Rente, die von der Versicherung (Inail) wegen des Fehlens eines Kausalzusammenhangs abgelehnt wurde. Daraufhin reichte der Betriebsleiter Klage ein und unterlag in erster Instanz (Urteil Nr. 471/08 des Amts- oder Landgerichts von Brescia). Inail anerkannte das Urteil des Berufungsgerichts nicht und wandte sich an die letzte Instanz (Kassationsgerichtshof in Rom), die 2012 das Urteil des Berufungsgerichts bestätigte. Wegen der intensiven beruflichen Nutzung von Funktelefonen, die für Privatpersonen untypisch ist, unterlag der Fall dem Arbeitsrecht.
Hintergrund
Italien: EMF-Arbeitsunfähigkeit angeblich anerkannt (2009)
Handy für Tumor verantwortlich: Gericht sorgt für Aufsehen (2012)
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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H. Lamarr,
23.05.2021, 20:03
- Anwalt Müggenborg schweigt - H. Lamarr, 24.07.2021, 09:41