Australier schrauben Sargdeckel auf Martin Palls VGCC-Hypothese (Forschung)

H. Lamarr @, München, Freitag, 27.11.2020, 17:46 (vor 1286 Tagen)

Martin Pall gerät mit seiner Hypothese zunehmend in Bedrängnis, athermische Effekte einer Mobilfunk-Exposition seien auf die Öffnung zellulärer spannungsgesteuerter Kalziumkanäle (VGCC) durch elektromagnetische Felder zurück zu führen. Dilettanten unter den Mobilfunkgegnern kaufen Pall diese Hypothese unbesehen ab, Wissenschaftler zweifelten sie mehr und mehr an. Und die Review zweier australischer Wissenschaftler kommt jetzt zu dem Schluss, Palls Hypothese entbehre jeder Grundlage.

Martin Pall ist ein 2008 emeritierter US-amerikanischer Wissenschaftler (Biochemie), der 2013 der Anti-Mobilfunkszene beitrat und seither bevorzugt vor Laien als Referent auftritt. Im Markt für Nahrungsergänzungsmittel ist er mit Antioxidantien geschäftlich aktiv. In Deutschland wurde Pall vom IZgMF erstmals 2017 entdeckt, als Referent der Scopro GmbH, die eng mit dem Verein EuropaEM (Interessenvertretung niedergelassener Umweltmediziner) verbunden ist. Von was für einem Kaliber Pall ist, wurde spätestens 2019 offensichtlich: Seinerzeit prophezeite er in einem Vortrag, wegen EMF-Dauerexposition der Bevölkerung käme es in ungefähr fünf bis sieben Jahren zum Zusammenbruch unserer kollektiven Gehirnfunktion, was weltweit zu Chaos in der Gesellschaft führen werde. Möglicherweise hatte er bei dieser Prognose weniger 5G im Kopf, als den Gedanken an eine Wiederwahl von Präsident Trump.

Seine Hypothese von der Empfindlichkeit spannungsgesteuerter Kalziumkanäle gegenüber EMF-Einwirkung formulierte er bereits 2013, blieb damit zunächst aber weitgehend unbeachtet. Dies änderte sich erst 2018, als 5G am Horizont sichtbar wurde und der Biochemiker seine Hypothese an 5G anpasste. Jetzt ging es Schlag auf Schlag wie hier nachzulesen ist und am Ende warnte Pall die europäische Politik eindringlich mit einem 90-Seiten-Dokument vor 5G: Great risk for EU, U.S. and international health! Die sogenannte Kompetenzinitiative eines deutschen Ex-Literaturprofessors wollte bei dem nun einsetzenden Rummel um Pall nicht abseits stehen, sie ließ das Pall-Papier ins Deutsche übersetzen, damit auch die darbenden EMF-Phobiker der D-A-CH-Länder nach langer Hungerpause mit frischer Nahrung versorgt werden.

Erste Kritik an Pall äußerte Mitte 2019 das Bundesamt für Strahlenschutz, wenig später nahmen sich auch der Wahlfinne Dariusz Leszczynski und einige andere Mobilfunkkritiker den Amerikaner zur Brust. Seither wurde es still um Pall, nur die sogenannte Kompetenzinitiative setzte noch ein zweites Mal aufs falsche Pferd und ließ ihn anlässlich ihres Symposiums im Oktober 2019 noch einmal auftreten. Der Sarg für Palls Spätkarriere als Fahnenträger der Anti-Mobilfunkszene stand da schon offen für ihn bereit.

Jetzt, rd. ein Jahr später, haben die beiden australischen Wissenschaftler Andrew Wood und Ken Karipidis den Sargdeckel geschlossen. Sie widerlegen in ihrer 13-seitigen Review Radiofrequency Fields and Calcium Movements Into and Out of Cells den US-Amerikaner Pall, ohne ihn auch nur ein einziges Mal beim Namen zu nennen. Elegant! Pall ist bei ihnen lediglich eine von 71 Literaturquellen. Das Papier der Australier ist fachlich anspruchsvoll, die folgende Deutsch-Übersetzung der Zusammenfassung, die ich mit Hilfe von deepl.com angefertigt habe, macht jedoch auch Nicht-Biochemikern die Kernpunkte der Kritik deutlich.

Trotz fast 50 Jahren Forschung über mögliche Auswirkungen von HF auf den zellulären Kalziumspiegel, sind die Ergebnisse weiterhin unterschiedlich und einen Wirkungsmechanismus ist schwer vorstellbar, selbst wenn die Wirkung real sein sollte. Die Experimente, die über Veränderungen zellulärer Kalziumionen Ca2+ berichten, sind ungefähr zu gleichen Teilen aufgeteilt in solche, die als Abnahme des zytoplasmatischen Ca2+ interpretiert werden können und solche bei denen eine Zunahme beobachtet wurde. Der größte Anteil (40 Prozent) fand keinerlei Veränderungen. Darüber hinaus ist es die Mehrheit der Studien mit höherer Qualität, die keinen Effekt gefunden haben. Experimente mit Ausrichtung auf spannungsgesteuerte Kalziumkanäle (VGCC) und direkter Messung zellulärer Ca2+-Ströme zeigen keine signifikanten HF-Effekte. Da GHz-HF-Felder ihre Polarität zu schnell wechseln, als dass dies Änderungen in Ionenfluss bewirken könnte, ist unklar, wie es in Ionenkanälen zu Gleichströmen kommen könnte, solange es keine Beweise für eine HF-Demodulation an biologischen Membranen gibt.

Elektrische Felder an einer Membran erfordern, um einen Ionenkanal vom "geschlossenen" Zustand in den "offenen" zu bringen, Feldstärkeänderungen in der Größenordnung von mehreren MV/m. Das aber ist deutlich mehr als die schwachen Felder leisten können, die von externen NF- oder HF-Feldern auf Membranen einwirken. Selbst bei grenzwertiger Stärke (Referenzwerte) kommen NF-Felder auf maximal 20 kV/m und HF-Felder auf maximal 87 V/m gemäß Literatur (3, 71). Es gibt offensichtlich keine Grundlage für die Behauptung, VGCCs würden außergewöhnlich empfindlich auf HF-EMF der Umgebung reagieren.

Darüber hinaus gibt es offenbar keine Übereinstimmung in der Beziehung zwischen ES [Glass effect size] und PD [Power Density] oder SAR. Offensichtlich ist, mit der Verfeinerung der Methoden zur Abschätzung von Ca2+-Strömen hat sich die Richtung der gefundenen signifikanten Effekte von einem zytoplasmatischen (oder Membran-)Verlust fort und hin zu einem zytoplasmatischen Gewinn verschoben. Infolge der besseren Abschätzung von subzellulärem [Ca2+], pH-Wert und Temperatur, wäre es ratsam, den "Kalzium-Effekt" neu zu untersuchen. Insbesondere mit Patch-Clamping-Experimenten, die auf VGCCs abzielen, um zu versuchen, die Gründe für die voneinander abweichenden Ergebnisse aufzudecken. Künftige Experimente sollten Aspekten zur Verbesserung der "Qualität" noch größere Aufmerksamkeit widmen, besonders mit Blick auf Verblindung, Positivkontrollen und Dosimetrie-Schätzungen, einschließlich Modellierung. Es ist äußerst wichtig, Artefakte zu eliminieren, vor allem eine lokale Erwärmung.

Hintergrund
Martin Palls Fußabdruck im IZgMF-Forum

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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