Schweiz: Nationalrat schlägt Schutzmaßnahmen für EHS vor (Elektrosensibilität)
Nationalrat Frédéric Borloz (FDP) hat am 21.03.2019 mit der Interpellation 19.3211 (Öffentlicher Raum. Schaffung von geschützten Zonen für Personen mit Elektrohypersensibilität) ein Thema aufgegriffen, welches im Schweizer Parlament ebenso regelmäßig wie erfolglos nach oben gespült wird. Vielleicht deshalb wurde Borloz' wundersamer Vorstoß von keinem anderen Nationalrat unterstützt. Der Interpellant hätte nur einmal das spärlich frequentierte Forum des (eigenen Angaben zufolge) mit Abstand größten Vereins für "Elektrosmog-Betroffene" in der Schweiz fünf Minuten sichten müssen, um zu erkennen, dass er mit seiner Behauptung "immer mehr ..." auf einem märchenhaften Holzweg ist. Irgendwer muss den Nationalrat mit der typischen Desinformation organisierter Mobilfunkgegner versorgt haben.
Immer mehr Menschen beklagen sich, dass sie höchst sensibel auf Strahlung reagieren. Und obwohl die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema Elektrohypersensibilität noch lückenhaft sind, mahnen immer mehr Fachleute aus Medizin und Wissenschaft, dass dieses Phänomen eine grosse Gefahr für die Gesundheit darstellt. Ist der Bundesrat nicht der Ansicht, dass ein Teil der Problematik gelöst werden könnte, indem im öffentlichen Raum Massnahmen zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung ergriffen werden?
Begründung
Insbesondere seitdem sich die Mobiltelefonie durchgesetzt hat, gehört Strahlung zu unserem Alltag. Gegenwärtig wird die Einführung des 5G-Mobilfunkstandards diskutiert; spätestens jetzt wird klar, dass abgeklärt werden muss, ob die ständige Exposition der Menschen nicht ein zu hohes Risiko für die Gesundheit darstellt. Seit vielen Jahren nimmt die Zahl der Menschen, die elektromagnetische Strahlung nicht mehr aushalten, zu. Gegenwärtig verfügen wir nur über wenige Daten, mit denen sich die Elektrohypersensibilität und die daraus resultierenden Folgen für die Gesundheit wissenschaftlich erhärten lassen. Dies wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen; in der Zwischenzeit vervielfachen sich sowohl die Zahl der Berichte über diese Hypersensibilität als auch die Forderungen nach Schutzmassnahmen. Für eine Petition, die ein Moratorium bei der Einführung des 5G-Mobilfunkstandards verlangt, sind bisher rund 26 000 Unterschriften gesammelt worden.
Es ist einfach, sich im privaten Rahmen vor nichtionisierender Strahlung zu schützen, beispielsweise, indem man selbst nur selten Geräte, die Strahlung aussenden, verwendet. Im öffentlichen Raum hingegen, wo die Menschen- und Strahlungsdichte gross ist, ist eine Exposition unvermeidlich. Besonders stark der Strahlung ausgesetzt ist man an Bahnhöfen und Flughäfen.
In Anlehnung an die Nichtraucher-Zonen - sie wurden zu einer Zeit vorgeschlagen, als das Rauchen im öffentlichen Raum sozusagen die Regel war - schlage ich die Schaffung kleiner Zonen zu Testzwecken vor, beispielsweise die Einrichtung von Wartsälen, die von elektromagnetischer Strahlung abgeschirmt sind. Dass ganze Wohnzonen von der Strahlung abgeschirmt werden (wie dies in der Petition 18.2002 verlangt wird), erscheint mir unrealistisch. Aber klar abgegrenzte und gekennzeichnete öffentliche Räume würden den Bürgerinnen und Bürger, die sich wegen einer zu hohen Strahlenbelastung zunehmend Sorgen machen, signalisieren, dass ihre Anliegen ernst genommen werden.
Der Bundesrat gab in seiner Stellungnahme vom 29.05.2019 Borloz den vorhersehbaren Bescheid:
Die Interpellation geht von der Annahme aus, dass Mobilfunkstrahlung, wie sie heute in der Umwelt vorhanden und rechtlich zulässig ist, für den Menschen nachweislich schädlich ist. Der Bundesrat hat in seinem Bericht vom 25. Februar 2015 "Zukunftstaugliche Mobilfunknetze" festgehalten, dass nur die Erwärmung des Körpergewebes als schädlicher Effekt wissenschaftlich zweifelsfrei nachgewiesen werden kann. Dieser Effekt ist bei Einhaltung der Immissionsgrenzwerte der Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV; SR 814.710) ausgeschlossen. Aus der Forschung liegen unterschiedlich gut abgesicherte Beobachtungen vor, wonach Mobilfunkstrahlung auch noch andere biologische Effekte auslösen kann, die nicht auf eine Erwärmung zurückzuführen sind. Die Frage, ob diese Effekte gesundheitlich von Bedeutung sind, ist Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat hochfrequente Strahlung - gestützt auf Befunde bei der Nutzung von Mobiltelefonen - als möglicherweise krebserregend klassiert. Gleichzeitig stellt sie fest, dass Studien für die wesentlich schwächere Belastung durch ortsfeste Sendeanlagen nicht auf ein erhöhtes Krebsrisiko hinweisen. Die WHO anerkennt jedoch auch, dass aussagekräftige Langzeituntersuchungen fehlen. Diesen Ungewissheiten hat der Bundesrat Rechnung getragen: er will mit der jüngsten Revision der NISV ein nationales Monitoring der Mobilfunkstrahlung und von nicht ionisierender Strahlung anderer Herkunft aufbauen. Zudem soll das Bundesamt für Umwelt künftig periodisch über den Stand der Erkenntnisse zu den Auswirkungen der Strahlung auf Mensch und Umwelt informieren. Die geltende NISV basiert auf dem Vorsorgeprinzip des Umweltschutzgesetzes (USG; SR 814.01) und enthält für Orte wie Wohnungen, Schulen, Spitäler, Büros oder Kinderspielplätze zusätzlich strengere Anlagegrenzwerte, welche die Langzeitbelastung an diesen Orten tief halten sollen.
Die Bevölkerung ist deshalb heute vor den nachgewiesenermassen schädlichen Auswirkungen der Strahlung von Mobilfunkantennen geschützt, und die vorsorgliche Begrenzung der Strahlung im Hinblick auf die Vermeidung ungewisser Gesundheitsrisiken erfolgt im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben. Bei dieser Sachlage erachtet der Bundesrat die in der Interpellation geforderte Schaffung von elektromagnetisch abgeschirmten Zonen in öffentlichen Gebäuden, wie zum Beispiel Wartehallen in Bahnhöfen, als nicht angezeigt.
Ähnliche Forderungen wurden in der Vergangenheit schon verschiedentlich erhoben. Sie sind durch Erfahrungen von Menschen motiviert, die empfindlich auf elektromagnetische Strahlung reagieren und die sich dadurch in ihrer Lebensqualität oder Gesundheit beeinträchtigt fühlen. Einzelne unter ihnen suchen deshalb Wohnraum mit möglichst niedriger Strahlungsbelastung, was bei der zunehmenden Antennendichte immer schwieriger wird. Dieses als "Elektrosensibilität" bezeichnete Phänomen ist bis heute ungeklärt und es gibt dafür keine etablierte medizinische Diagnose. Die Erfahrung zeigt, dass die betroffenen Menschen zweifellos gesundheitliche Beschwerden haben und auch darunter leiden. Die Ursachen sind jedoch nicht klar und ein kausaler Zusammenhang zu elektromagnetischer Strahlung nicht belegt.
Bei dieser Ausgangslage erscheint die mit der Interpellation geforderte staatliche Intervention als unverhältnismässig. Die Situation stellt sich anders dar als bei rauchfreien Zonen, weil die Schädlichkeit des Passivrauchens - im Gegensatz zur Mobilfunkstrahlung - klar belegt war. Wenn Bedarf nach strahlungsarmen oder -freien Gebieten besteht, wäre deren Realisierung aus heutiger Sicht eher dem Privatsektor zu überlassen. So existiert beispielsweise in Zürich ein Gebäude, in welchem die Wohnungen speziell gegen Umwelteinflüsse und auch gegen elektromagnetische Strahlung abgeschirmt worden sind. Und derzeit werden in Schmitten (FR) drei solche Wohnhäuser mit insgesamt 27 Wohnungen realisiert.
Hintergrund
Verein für Elektrosensible, Mitgliederentwicklung
Schweiz: Hundertausende "Elektrosensible"
Faktencheck: Bevölkerungsanteil, der durch Mobilfunk krank wird
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –