Kommentar der Forschungsstiftung FSM (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 20.03.2007, 23:43 (vor 6219 Tagen) @ KlaKla

Schweizer entwickeln fliegende Handy-Antenne

Ersatz für unbeliebte Bodenstationen

Ein Schweizer Team aus Wissenschaftlern und dem Unternehmer Kamal Alavi hat eine fliegende Handy-Antenne entwickelt. Die «X-Station> soll in über 21'000 Metern Höhe die Antennen am Boden ersetzen.

Kommentar Forschungsstiftung Mobilkommunikation (Schweiz)

Ende September 2006 sind in der Schweiz mehrere Medienberichte über eine fliegende Antenne erschienen. Diese sogenannte X-Station, ein Zeppelin von 60 Meter Länge in 20 km Höhe in der Stratosphäre positioniert, soll grosse Regionen von bis zu 1000 km Durchmesser mit verschiedenen Funkdiensten abdecken. Insbesondere soll die X-Station das terrestrische Mobilfunknetz und damit die ungeliebten Basisstationen überflüssig machen. Der Erfinder der X-Station, Kamal Alavi sagt dazu in einem Bericht der Solothurner Zeitung vom 30.09.06: "Auf einen Schlag werden in der Schweiz alle rund 1000 Mobilfunkantennen überflüssig". Wie realistisch sind solche Aussagen?

Auf die aerodynamischen und materialtechnischen Fragen im Zusammenhang mit der Luftschifftechnik in grosser Höhe wird hier nicht eingegangen. Solche Fragen werden seit vielen Jahren von verschiedenen Forschungsgruppen untersucht. Für Informationen zu diesen Herausforderungen im Bereich "HAPS - High Altitude Platform Stations" siehe:

• http://www.capanina.org
• http://www.isd.uni-stuttgart.de/forschung/fsforschung.htm

Kapazitätsabschätzung
In der Schweiz sind über 10'000 Mobilfunk-Basisstationen mit mehr als 35'000 Zellen installiert. In der Agglomeration Zürich (Stadt und nähere Umgebung) sind etwa 3500 Zellen aktiv. Eine Zelle ist definiert als das Sendegebiet einer einzigen Antenne (Panel), eines einzigen Anbieters, für einen einzigen Dienst. Anbieter gibt es im Raum Zürich vier, Dienste drei (GSM900, GSM1800 und UMTS). In den ca. 3500 Zellen sind etwa 6000 GSM-Träger und ca. 1000 UMTS-Träger aktiv. Ungefähr 10% der schweizweiten Mobilfunk Kapazität befindet sich damit in Zürich und Umgebung.

Ausgehend von den Bandbreiten der Dienste (GSM: 200kHz; UMTS: 5MHz), der durchschnittlichen Verkehrsauslastung (um 30%) und der Tatsache, dass sowohl uplink (Verbindung Handy-Basisstation) als auch downlink (Verbindung Basisstation-Handy) Bandbreite benötigen, lässt sich der Kapazitätsbedarf für eine "Grosszelle" abschätzen: Er beträgt 2x 360MHz für GSM und 2x 560MHz für UMTS (Abschätzung für UMTS ist unsicher, da die effektive Netzauslastung noch zu wenig bekannt ist).

Basierend auf den heutigen Verkehrsdaten ist damit für die Region Zürich ein Bandbreitenbedarf von ca. 2x 0.9 GHz gegeben. Für WiMAX sind im Bereich 3.5GHz insgesamt 2x 60MHz reserviert, fünfzehnmal weniger als für eine Grossabdeckung notwendig wäre. Doch die X-Station ist ein Zukunftsprojekt. Es gilt daher das Potential auszuloten und zu beurteilen.

Verfügbare Bandbreite: Geht man (realistischerweise) davon aus, dass WiMAX ein effizienteres Modulationsverfahren einsetzen wird als GSM und UMTS, so könnte der heutige Kapazitätsbedarf der Region Zürich mit vielleicht einigen hundert MHz Bandbreite gedeckt werden. Diese Bandbreite könnte in ferner Zukunft zur Verfügung stehen, kurz- und mittelfristig ist das hingegen nicht möglich. Änderungen in der Frequenzallokation müssen international ausgehandelt werden und dauern in der Regel ein Jahrzehnt.

Forschungsstiftung Mobilkommunikation Research Foundation Mobile Communication Dämpfung: Es gilt zu berücksichtigen, dass die Dämpfung der elektromagnetischen Felder durch Gebäude und topographische Hindernisse im Bereich 3.5 GHz (und höher) bereits beträchtlich ist. Ein Empfang innerhalb von Häusern oder in engen Strassen ist nicht mehr automatisch gewährleistet.
Marktentwicklung: Es muss abgewartet werden, ob sich WiMAX als Standard wirtschaftlich durchsetzen und ob er die oben erwähnte Effizienz erbringen wird.

Strahlenbelastung: Die Mobilfunktechnologie erfordert immer zwei Komponenten, die Mobiltelefone und die für die Verbindung notwendige Infrastruktur. Die Sendeleistungen werden jeweils den Sendebedingungen angepasst (minimiert). Eine X-Station wird im besten Fall 20km vom Mobiltelefon entfernt sein, im schlechtesten Fall deutlich mehr und, da tiefer am Horizont stehend, durch Hindernisse verdeckt. Es ist gut vorstellbar, dass Mobiltelefone unter ungünstigen Umständen deutlich stärker senden müssen als das beim heutigen terrestrischen Netz mit vielen, nahe gelegenen Basisstationen der Fall ist. Aussagen sind hier allerdings unsicher und sollten nur mit grosser Vorsicht abgegeben werden. Die pauschale Annahme, dass die Strahlenbelastung insgesamt zurückgehe, ist jedoch gewagt und wird sich kaum auf die telefonierenden Endkunden beziehen wollen.

Fazit
Es ist wenig realistisch anzunehmen, dass das terrestrische Mobilfunknetz der Schweiz in den nächsten Jahren durch einige wenige X-Stations bzw. HAPS ersetzt wird oder werden kann. Dagegen sprechen u.a. die technische Infrastruktur, die gegenwärtig diese Bandbreiten für die Erschliessung aus der Höhe nicht anbietet, die juristischen und technischen Rahmenbedingungen im Bereich der Frequenzzuweisung, die funktechnischen Einschränkungen betreffend Empfangsqualität und Dämpfung, die ökonomischen Risiken, welche den Markt auszeichnen, sowie mögliche Hürden im Bereich der Strahlenbelastung durch Endgeräte.

Allerdings gibt es durchaus sinnvolle Anwendungsgebiete für HAPS, etwa die Erschliessung ländlicher Gebiete oder das Remote Sensing. Diese werden u.a. auch in den eingangs erwähnten internationalen Projekten (siehe Links auf der Vorseite) verfolgt und verdienen und erfordern weitere Forschungen und Experimentierfreudigkeit.

8.12.2006 / GD Dieser Kurzkommentar entstand in Zusammenarbeit mit dem BAKOM (http://www.bakom.admin.ch/themen/technologie/00925/index.html?lang=de)

Quelle: http://www.mobile-research.ethz.ch/var/X-Station.pdf

Hinweis: Die Forschungsstiftung Mobilkommunikation wird u. a. von Nokia und den Schweizer Mobilfunkbetreibern finanziert

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Schweiz, Solothurn


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