WHO: HF-EMF-Auswirkungen auf Fortpflanzung von Säugetieren (I) (Forschung)
Im Auftrag der WHO untersuchten Cordelli et al. mit einer systematischen Review experimenteller Tierstudien die Auswirkungen einer Exposition gegenüber hochfrequenten elektromagnetischen Feldern (HF-EMF) auf Schwangerschaft und Geburt von Säugetieren. Das Ergebnis ist undramatisch. HF-EMF-Exposition unterhalb der Icnirp-Referenzwerte gefährdet die Fruchtbarkeit nicht und hat wahrscheinlich nur geringe Auswirkung auf die Gewichtsabnahme von Föten. Können schwangere Frauen nun erleichtert aufatmen? Aus Sicht von zwei Wissenschaftlern im Ruhestand nicht. Ihrer Ansicht nach verharmlost das Ergebnis der Review systematisch schädliche nichtthermische Wirkungen einer HF-EMF-Exposition.
Die Review der Arbeitsgruppe Cordelli erschien bereits im Oktober 2023 online in dem Fachjournal Environment International (Volltext). Sie war damit von zehn systematischen Reviews, welche die WHO 2019 bei Fachwissenschaftlern in Auftrag gab, die erste, die abgeliefert wurde. Da der umfangreiche Abstract eher Wissenschaftler adressiert, nachfolgend eine leichter verständliche Inhaltsübersicht, entnommen dem Abschnitt 4.4. Implications for policy and research, ins Deutsche übersetzt und kursiv formatiert:
Inhaltsübersicht der systematischen Review
Diese systematische Überprüfung von Tierstudien zeigt, dass HF-EMF-Exposition die Fruchtbarkeit nicht beeinträchtigt und wahrscheinlich nur eine geringe Auswirkung auf die Gewichtsabnahme von Föten hat. Einige Studien, die bei der Literaturrecherche gefunden wurden, können jedoch nicht ignoriert werden. Denn sie zeigten schädliche Auswirkungen auf die Häufigkeit von toten/resorbierten Föten oder eine Zunahme von Missbildungen. Dies allerdings bei Expositionsniveaus, welche die derzeitigen Expositionsgrenzwerte für Menschen weit überschreiten.
Besagte Studien bestätigen, was über die schädlichen Auswirkungen einer Erwärmung auf Föten bekannt ist. Sie lassen aber die Auswirkungen von HF-EMF-Effekten bei niedrigeren Expositionsniveaus, die näher an den relevanten Expositionsniveaus für Menschen liegen, weitgehend im Ungewissen. Derzeit ist es nach wie vor schwierig, Expositionswerte zu bestimmen, bei denen HF-EMF die Fruchtbarkeit oder die Gesundheit des Nachwuchses bei der Geburt beeinträchtigen können. Die durchschnittlichen Ganzkörper-SAR-Werte in den einbezogenen Experimenten liegen deutlich über den von internationalen Gremien empfohlenen Expositionsgrenzwerten für die Allgemeinheit (ICNIRP 2020). Die tatsächlichen SAR-Werte, denen die Bevölkerung in ihrer Lebensumgebung ausgesetzt ist, liegen unter den empfohlenen Expositionsgrenzwerten für Menschen, in den meisten Fällen sogar deutlich darunter. Die Dosis-Wirkungs-Metaanalysen trugen dazu bei, die Ergebnisse der Metaanalyse zu untermauern. Sie dienten aber nicht dazu, die Beschaffenheit der Dosis-Wirkungs-Beziehung zu definieren oder ein Mindestexpositionsniveau zu finden, bei dem eine eindeutige Wirkung festgestellt werden kann.
Für zwei im Protokoll vorgesehene Endpunkte, nämlich den ano-genitalen Abstand bei der Geburt und Krebs im Frühstadium, konnten keine Studien gefunden werden. Der ano-genitale Abstand, ein bekannter Entwicklungs-Biomarker, der mit einer Beeinträchtigung des Fortpflanzungssystems einhergeht, und die Exposition gegenüber Umweltkarzinogenen während der Schwangerschaft wurden mit der Entwicklung von Krebs im Kindesalter in Verbindung gebracht (Botsivali und Kyrtopoulos, 2019). Es bleibt zu hoffen, dass künftige Forschungen Licht in die Auswirkungen einer HF-EMF-Exposition auf diese Endpunkte bringen.
Insgesamt bleibt die mögliche Auswirkung von HF-EMF-Exposition in utero aufgrund der starken Einschränkungen einiger Studien ungewiss. Insbesondere haben wir während der systematischen Überprüfung mehrere methodische Einschränkungen von Studien identifiziert, die in zukünftigen Studien überwunden werden sollten, um die Qualität der Forschung zu bessern. Die Durchführung der Experimente und die Bewertung der Ergebnisse sollten stets verblindet werden, um Verzerrungen zu minimieren. Es wird empfohlen, die OECD-Prüfrichtlinien 414 "Pränatale Entwicklungstoxizitätsstudien" und 426 "Entwicklungsneurotoxizitätsstudien" strenger einzuhalten und die Berichterstattung über die Ergebnisse stärker zu standardisieren. Ein großer Teil der eingeschlossenen Studien wurde entweder mit "etwas bedenklich" oder "sehr bedenklich" für RoB [Risk of Bias] in Bezug auf die Expositionsbeschreibung oder die Bewertung des Temperaturanstiegs eingestuft. Einige andere mussten aus der systematischen Überprüfung ausgeschlossen werden, weil sie für diese Aspekte nicht den Mindestqualitätsstandard erreichten. Wir empfehlen, dass zukünftige Studien die Gründe für einen Ausschluss oder die RoB-Bedenken beim Studiendesign und der Durchführung berücksichtigen. In der Forschungsliteratur gibt es mehrere Arbeiten mit Empfehlungen, wie Bedenken hinsichtlich der Charakterisierung der Exposition entkräftet werden können, zum Beispiel Kuster und Schönborn (2000). Schließlich sollten Studien, die mit mehreren Expositionsniveaus arbeiten, von niedrigen Niveaus, die mit der Exposition von Menschen vergleichbar sind, bis hin zu höheren Niveaus, bei denen leichte hyperthermische Wirkungen erwartet werden könnten, unter denselben Versuchsbedingungen durchgeführt werden.
Trotz der großen Anzahl der gesammelten Studien konnte unsere systematische Überprüfung die PECO-Frage [Population, Exposure, Comparison, Outcome] nur teilweise beantworten und lieferte keine hinreichend sicheren Schlussfolgerungen, um Entscheidungen auf regulatorischer Ebene zu treffen. Aber unser Paper kann als solider Ausgangspunkt für künftige Forschungen zu diesem Thema angesehen werden.
Soviel zu dem Paper der Arbeitsgruppe Cordelli. Wie es sich für eine ordentliche systematische Review gehört, diskutieren die Autoren in Abschnitt 4.2. Limitations in the evidence und in Abschnitt 4.3. Limitations in the review process.
Kritik an der Review
Am 10. Juli 2024 erschien in dem Fachjournal Reviews on Environmental Health eine umfassende Kritik (Volltext) an der Review von Cordelli et al., verfasst von den norwegischen Wissenschaftlern Else Kristine Nordhagen (67) und Einar Flydal (75), beide Oslo. Im Abstract heißt es (hier kursiv):
Wir haben eine der ersten veröffentlichten systematischen Übersichten untersucht, die Teil der jüngsten WHO-Initiative zur Bewertung der Beweise für Zusammenhänge zwischen hochfrequenter elektromagnetischer Strahlung (HF-EMF) und schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen sind. Die untersuchte Übersichtsarbeit befasst sich mit experimentellen Studien zu Schwangerschafts- und Geburtsergebnissen bei nicht-menschlichen Säugetieren. Die Review behauptet, dass die analysierten Daten keine hinreichend sicheren Schlussfolgerungen liefern, um Entscheidungen auf regulatorischer Ebene zu treffen. Unser Ziel war es, die Qualität dieser systematischen Übersichtsarbeit zu beurteilen und die Relevanz ihrer Schlussfolgerungen für schwangere Frauen und ihre Nachkommen zu bewerten. Die Qualität und die Relevanz wurden anhand der Prämissen der Übersichtsarbeit selbst überprüft: So haben wir weder die Auswahl der Primärstudien noch die ausgewählten statistischen Methoden infrage gestellt. Auch wenn sich die systematische Überprüfung der WHO als gründlich, wissenschaftlich und relevant für die menschliche Gesundheit darstellt, haben wir zahlreiche Probleme festgestellt, die zeigen, dass die Review der WHO irrelevant und mit schweren Mängeln behaftet ist. Alle von uns gefundenen Mängel verzerren die Ergebnisse und stützen die Schlussfolgerung der Review, es gäbe keine schlüssigen Beweise für nichtthermische Wirkungen. Wir zeigen, dass die zugrundeliegenden Daten, werden die relevanten Studien korrekt zitiert, die gegenteilige Schlussfolgerung untermauern: Es gibt eindeutige Hinweise auf schädliche nichtthermische Wirkungen von HF-EMF-Exposition. Die vielen identifizierten Mängel decken das Muster einer systematischen Verzerrung auf, das auf Ungewissheit abzielt, die sich hinter komplexer wissenschaftlicher Strenge verbirgt. Die unausgewogene Methodik und die geringe Qualität dieser Übersichtsarbeit sind höchst bedenklich, da sie die Vertrauenswürdigkeit und Professionalität der WHO auf dem Gebiet der Gesundheitsgefährdung durch künstlich erzeugte HF-EMF zu erschüttern vermag.
Weiter schreiben Nordhagen und Flydal, sie hätten festgestellt, dass es sich bei der besagten Review um ein umfangreiches Werk mit einem strengen und komplexen Protokoll und umfangreichen und komplexen statistischen Analysen handle. Eine Folge dieser Komplexität sei es, dass mutmaßlich kein durchschnittlicher Leser – nicht einmal Fachleute – die Ergebnisse der Review überprüfen würden, wenn nicht aus anderen Gründen, dann wegen des großen Aufwands. Damit werde der wissenschaftliche Austausch, die Diskussion und Kontrolle erschwert und auf eine Vertrauenssache reduziert. Sie könnten nicht beweisen, so das Autorenduo, dass die Fehler und Auslassungen absichtlich herbeigeführt wurden, um zu den gewünschten Schlussfolgerungen zu gelangen, da sie so gut wie keine Informationen über die Autoren der Review hätten. Dies gälte sowohl für den Prozesses der Erstellung der Review als auch für das Protokoll. Unabhängig von den Ursachen sei die Review eindeutig von so geringer Qualität, dass ihre Schlussfolgerungen keinen wissenschaftlichen Wert hätten. Die Fehler, Unzulänglichkeiten und Auslassungen seien so gravierend, dass die Review aus Sicht der beiden Kritiker unwissenschaftlich und unethisch ist und daher zurückgezogen werden sollte.
Fortsetzung in Teil II
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –