WHO: HF-EMF-Auswirkungen auf Fortpflanzung von Säugetieren (II) (Forschung)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 28.07.2024, 16:28 (vor 116 Tagen) @ H. Lamarr

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Kommentar

Nordhagen und Flydal lässt sich nicht unterstellen, sie wären ergebnisoffene Wissenschaftler im Ruhestand, denn beide traten erstmals 2022 als Icnirp-Kritiker ins Rampenlicht der Mobilfunkdebatte. Im Gegensatz zu der von Anti-Mobilfunk-Vereinen hervorgebrachten Laienkritik am Mobilfunk haben die beiden Norweger allerdings durchaus wissenschaftliches Niveau, sieht man von Ausrutschern wie die Verwechslung von BfS und SSK einmal ab. So trifft das, was sie der Cordelli-Review vorwerfen, auch auf ihre eigene Kritik zu: Wegen deren Komplexität dürften sich nur wenige Wissenschaftler intensiv damit befassen, wahrscheinlich nur die angegriffene Arbeitsgruppe Cordelli. Alle übrigen, insbesondere Anti-Mobilfunk-Vereine, müssen notgedrungen darauf vertrauen, dass die Anschuldigungen aus Norwegen schon Hand und Fuß haben werden. Aller Voraussicht nach wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung um die Kritik an der Cordelli-Review, so es überhaupt dazu kommt, im Elfenbeinturm der Wissenschaft stattfinden. Zaungästen bleiben nur nach draußen dringende leichtverständliche Interpretation des Streitausgangs, die wiederum vom Interpreten abhängen und damit Vertrauenssache sind. Über den tatsächlichen Streitausgang werden am Ende wohl nur die beiden Streitparteien wirklich Bescheid wissen. Und mein Bauch sagt mir, Cordelli et al. werden gewinnen, ihre Review wird nicht zurückgezogen und die WHO wird das Paper wie geplant in ihre kommende HF-EMF-Risikobewertung (EHC) mit einbeziehen.

Das geschilderte Szenario passt gut in unsere von Kokophonie und Empörungslust geprägte Zeit, in der sich jeder aus dem Gewirr von Anschuldigungen und Gegenreden herauspicken kann, was ihm gefällt. Minderheitenmeinungen hat es schon immer gegeben, doch nie zuvor standen ihre Chancen mMn besser, durch technische Hilfsmittel (PC, Tablet, Smartphone, TV, Radio) Mehrheiten zu infizieren.

Auch mir fehlt die Kompetenz, Nordhagen und Flydal in der Sache selbst primär zu widerlegen. Doch es gibt bei beiden einige sekundäre Aspekte, die mich stutzen lassen und die jedermann leicht nachvollziehen kann:

Zweifel säen: Mit dem gezielten Säen von Zweifeln an der Schädlichkeit des Passivrauchens ist es der Tabakindustrie über Jahrzehnte hinweg gelungen, Raucher bei der Stange zu halten (Stichwort: Ablenkungsforschung). Dies dürfte unstreitig sein. Auch organisierte Mobilfunkgegner bedienen sich mMn dieser bewährten Strategie, wobei das Spektrum der Motivation von fester Überzeugung bis hin zu materiellen/immateriellen Profitstreben reicht. Die Zweifel müssen nicht einmal hieb- und stichfest begründet werden, denn wer auf der richtigen Wellenlänge schwingt, vereinnahmt die Zweifel freiwillig auch ohne. Eine plausibel wirkende Begründung verengt allerdings die Maschenweite des Fangnetzes.

Kargo-Kult-Wissenschaft: Was damit gemeint ist sowie einige konkrete Beispiele für Kargo-Kult-Studien lassen sich hier nachlesen. Neu ist der Gedanke von Nordhagen und Flydal, wissenschaftlich fehlerhafte Studien absichtlich so komplex zu präsentieren, dass sogar Fachleute abgeschreckt werden, sie zu prüfen. Im Umkehrschluss heißt das: Organisierte Mobilfunkgegner können mit inhaltlich völlig indiskutablen Studien gezielt Zweifel unter Laien säen und sich mit komplexer Aufmachung davor schützen, dass ihr Coup von der Zielgruppe mühelos zu entlarven ist. Um ihre primäre Zielgruppe (Laien) zu erreichen, publizieren sie bevorzugt in Open-Access-Medien, die für jedermann unentgeltlich zu konsumieren sind.

Trägerschiff: Von den zehn systematischen Reviews, welche die WHO in Auftrag gab, sind bis heute acht veröffentlicht worden und davon wurden bislang zwei (Cordelli, Röösli) von organisierten Mobilfunkgegnern angegriffen. Das publizistische Trägerschiff, von dem aus gegen die WHO-Reviews gefeuert wird, ist das Fachjournal Reviews on Environmental Health. Warum ausgerechnet dieses Journal? Weil dessen Co-Chefredakteur David O. Carpenter (87), USA, ein überzeugter Mobilfunkgegner ist (Stichwort: BioInitiative-Reports). Anzunehmen ist, dass das Blatt noch weitere der WHO-Reviews mit Kritik überziehen wird.

Environmental Health Criteria (EHC): Zuletzt bewertete die WHO das Gesundheitsrisiko von HF-EMF vor mehr als 30 Jahren. Die EHC-Neuauflage der Bewertung ist seit 2015 immer wieder verschoben worden und soll jetzt dieses oder nächstes Jahr erscheinen. Das Papier wird über lange Zeit hinweg entscheidende Bedeutung für nationale Risikobewertungen weltweit haben. Organisierte Mobilfunkgegner beobachten deshalb den Entstehungsprozess der EHC-Neuauflage mit Argusaugen. Das Papier wird sich u.a. auf die erwähnten zehn systematischen Reviews stützen. Mit der Entwertung der Reviews schlagen die Kritiker zwei Fliegen mit einer Klappe und bringen die EHC-Neuauflage schon in Misskredit, noch bevor diese überhaupt erschienen ist.

Graue Panther: Mobilfunkkritische Wissenschaftler sind die autoritäre Speerspitze, sie füttern die Basis der Mobilfunkkritiker mit Argumenten, Zwischenwirte sind üblicherweise Anti-Mobilfunk-Vereine. Aber: Diese Speerspitze ist überaltert, die meisten der dort zu verorteten Wissenschaftler sind jenseits der 70 und im Ruhestand. Dieser Umstand verhilft zu viel freier Zeit, z.B. um sperrige WHO-Reviews anzugreifen. Doch Rentner müssen nicht mehr auf ihren Ruf achten oder auf den ihrer ehemaligen beruflichen Heimat. Dies birgt das Risiko, gewagte Hypothesen zu vertreten oder, weil von der aktuellen Forschung abgekoppelt, meinungsstark, aber faktenschwach aufzutrumpfen.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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