Zitierkartell: Icnirp erneut unter Beschuss (Forschung)

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 30.06.2022, 01:34 (vor 894 Tagen)

Diesmal sind es zur Abwechslung zwei norwegische Forscher im Ruhestand, die Icnirp ans Leder wollen. Sie haben untersucht, auf welche Literatur sich die Icnirp-Empfehlungen 2020 stützen und ob die Autoren dieser Literatur irgendwie in Verbindung zu Icnirp stehen (Kommission und wissenschaftliche Expertengruppe). Das Ergebnis ihrer Recherche: Icnirp stützt sich auf ein Zitierkartell, das im Kern aus nur 17 Wissenschaftlern besteht. Dieses Ergebnis ist bestürzend, gäbe es da nicht mindestens ein Haar in der Suppe.

Die Untersuchung von Else K. Nordhagen und Einar Flydal flutet momentan die Echokammern der internationalen Anti-Mobilfunk-Szene, bestätigen die Ergebnisse die Erwartungen der Szene doch voll und ganz. Und damit auch jeder Mobilfunkgegner sich selbst unentgeltlich von der Richtigkeit der Vorwürfe überzeugen kann, publizierten die beiden Autoren am 27. Juni 2022 ihr Paper ohne Bezahlschranke in der Zeitschrift Reviews on Environmental Health. Titel: Self-referencing authorships behind the ICNIRP 2020 radiation protection guidelines (Volltext).

Bei der schnellen Durchsicht des Textes kamen mir zwar Zweifel, ob die von den beiden Autoren beschriebene Suchmethode korrekt ist, im Detail wollte ich mich mit der mMn nicht gerade leicht verständlichen Beschreibung jedoch nicht auseinandersetzen. Wenn überhaupt, ist dies Sache von Icnirp.

Mich beschäftigte mehr die Frage, was das für zwei mir unbekannte Ruheständler seien mögen, die urplötzlich zum Leben erwachen, nur um die Zitierpraxis von Icnirp kritisch unter die Lupe zu nehmen. Unvoreingenomme Rentner würden wohl kaum auf so eine Idee kommen, überzeugte Mobilfunkgegner dagegen schon. Allerdings bekunden beide Autoren, sie hätten keinen Interessenkonflikt. Da diesen Selbstauskünften jedoch nicht zu trauen ist, suchte ich zuerst in dem einschlägig bekannten "5G Space Appeal" des US-amerikanischen "Elektrosensiblen" Arthur Firstenberg nach den beiden Autoren. Else K. Nordhagen fand ich dort nicht, unter "Other Professionals" bekennt sich lediglich eine Bibliothekarin aus Stavanger namens Randi Nordhagen zu dem abseitigen Firstenberg-Appell. Ob irgendein Verwandtschaftsverhältnis zwischen beiden besteht habe ich nicht recherchiert.

Nächste Station war der 5G-Appell von Hardell/Nyberg. Dort taucht der Name Nordhagen überhaupt nicht auf.

Hingegen ist der Zweitautor Einar Flydal in beiden Appellen vertreten. Wer ist dieser Mann?

Dies zu recherchieren war keine Kunst, denn der etwas kauzig wirkende Flydal ist ein reger Mobilfunkgegner mit eigener Website. In seiner Selbstdarstellung bei den Appellen bezeichnet er sich mal als ...

... cand.polit. & Master of Telecom Strategy, retired senior adviser Telenor Research and Development, Oslo ...

mal als ...

... cand.polit. and Master of Telecom Strategy & Technology Management (MTS),
Retired Researcher, University Professor and Senior Advisor, Oslo

Telenor ist die börsennotierte staatliche norwegische Telefongesellschaft (inkl. Mobilfunknetzbetreiber), vergleichbar mit der Deutschen Telekom.

Flydals Angaben zufolge verklagte im März 2015 ein Radartechniker Telenor, weil ein naher Funkmast des Netzbetreibers das Haus des Klägers "durchstrahlen" musste (Grenzwertausschöpfung 2 Prozent), um dahinter liegende Häuser zu versorgen. Flydal nahm aufseiten des Klägers an der Verhandlung gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber teil.

Es kam, was kommen musste. Der Radartechniker unterlag vor Gericht und musste neben den eigenen Verfahrenskosten auch die von Telenor berappen. Insgesamt sollen es umgerechnet fast 100'000 Euro gewesen sein, wie Flydal auf dieser Seite seines Webauftritts berichtet. Auch seine kritische Haltung gegenüber Icnirp (sowie gegenüber der norwegischen Strahlenschutzbehörde und der WHO) bringt er dort bereits 2015 unmissverständlich zum Ausdruck. Dies ist sein gutes Recht, niemand kann ihm dies vorwerfen. Dann aber 2022 Icnirp ein Zitierkartell vorzuwerfen und zu behaupten, er habe keinen Interessenkonflikt, halte ich für äußerst gewagt. Gewagt sind auch die Referenzen, auf die sich Flydal beruft, als einem da z.B. Olle Johansson und die Österreichische Ärztekammer ins Auge stechen.

Was ich für gewagt halte oder auch nicht spielt allerdings keine bemerkenswerte Rolle. Entscheidend wird sein, ob Icnirp den Angriff der beiden Norweger für bedeutsam genug hält, um darauf öffentlich zu reagieren. Bislang reagierte der Münchener Verein nur sehr selten direkt auf Angriffe und hüllte sich lieber in Schweigen. Eine mMn nicht ungefährliche Strategie, denn solange Icnirp den Vorwurf des Zitierkartells nicht plausibel widerlegt, z.B. indem (auch) nachvollziehbare Qualitätsaspekte der referenzierten Studien zur Sprache kommen, was bei der Untersuchung von Nordhagen/Flydal völlig ausgeklammert wurde, dürfte die Untersuchung der beiden Kritiker dem Ruf von Icnirp erheblich schaden. Problematisch dürfte dabei sein, dass alle Icnirp-Mitglieder ehrenamtlich tätig sind und sich mutmaßlich nur widerwillig in die Verteidigungsposition begeben, statt den wissenschaftlichen Fortschritt in EMF-Sachfragen zu beobachten. Chancengleichheit wäre mMn dann gegeben, würde Icnirp diese unangenehme Aufgabe an Ruheständler in den eigenen Reihen delegieren :-).

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Klage, Game over, Radar, Senioren, ICNIRP-Mitglieder, Flydal


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