WHO-Review zu Hirntumoren: Diagnose-Funk tritt auf den Plan (Forschung)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 22.09.2024, 21:56 (vor 119 Tagen) @ e=mc2

Die WHO-Review zu Hirntumoren hat am 14. September 2024 den Stuttgarter Anti-Mobilfunk-Verein auf den Plan gerufen. Den Stuttgartern ist Entwarnung ein Gräuel, deshalb geben sie, so gut sie können, Gegensteuer und warnen vor der Entwarnung. An der Review selbst haben sie sich allerdings nicht vergriffen, die war ihnen wohl zu komplex. Der Zorn des Vereins entlädt sich vielmehr an dem, was sich im aufgewühlten Kielwasser der Review so abspielt.

Wie üblich hat Diagnose-Funk sich bei dem Versuch, die WHO-Review zu Hirntumoren zu entwerten, verausgabt. Ohne die Bilder wälzen sich allein die rd. 35'900 Buchstaben des Beitrags in Form von 4'460 Wörtern über zwölf Din-A4-Seiten hinweg und dann ist noch immer nicht Schluss, denn dann kommt Werbung für allerlei Publikationen des Vereins. Warum immer so wortreich? Einstein soll dazu einmal den Standpunkt vertreten haben: "Wenn du es nicht einfach erklären kannst, hast du es nicht gut genug verstanden". Da könnte was dran sein, wie wir gleich an ein paar Beispielen sehen werden. Zu mehr als nur Beispielen ist mir nach dem Lesen des Einstiegs die Lust vergangen. Aber lesen Sie selbst, wie Diagnose-Funk glaubt, Neugierige für den Bandwurmbeitrag zu interessieren:

Einseitige ICNIRP-Studie behauptet, Handynutzung erhöhe Krebsrisiko nicht. Ist das so?

Wir analysieren die weltweite Kampagne zur Risikoleugnung!

„Handynutzung erhöht Krebsrisiko nicht“, diese Meldung ging ab dem 6.9.2024 um die Welt – zur Genugtuung der Mobilfunkindustrie. Die Meldung beruft sich auf eine Studie der ICNIRP, an der auch ein Mitarbeiter des deutschen Bundesamtes für Strahlenschutz beteiligt ist. Doch diese Studie ist unwissenschaftlich und verfälscht die Studienlage. Warum, das klärt unsere Analyse. [...]

Ist bei so einem Empfang eine seriöse Analyse von Kielwasserproben der Review zu erwarten? Oder versucht hier ein unbekannter Autor seine Leser mit Populismus und Polemik von Anfang an auf seinen Kurs einzunorden? Meine Einschätzung ist eindeutig, hier will jemand Meinung zurecht kneten. Der Populismus in dem Textfragment entwertet die Review mit simplen Behauptungen, die aggressive überzogene Polemik hebt den Autor nach oben und drückt seine Gegner nach unten. Doch warum tut jemand so etwas? Der Autor des Diagnose-Funk-Beitrags (mutmaßlich Peter Hensinger) hat keine Wahl, will er auf Laien glaubwürdig wirken. Denn er ist unter EMF-Experten ein Niemand, seine Gegner (Review-Autoren, Icnirp, BfS) sind ihm fachlich haushoch überlegen.

Nach dem populemischen Einstieg sichtete ich ziellos noch einige Passagen des Fließtexts, dann war mir klar: Nein, für eine systematische akribische Auseinandersetzung kommt der Textbrei nicht infrage. Eine umfassende Entgegnung würde mich viel Zeit kosten und, schlimmer noch, ich würde damit den unwichtigen Beitrag unabsichtlich aufwerten. Nur ein bisschen, weil auch ich ein Niemand bin. Das beste, was Diagnose-Funk passieren könnte, wären daher Einsprüche der angegriffenen hochrangigen Gegner. Die aber sind nicht dumm und werden sich hüten, dem Verein diese Ehre zu erweisen. Andererseits: Ganz ohne Widerspruch geht es auch nicht, soll der Eindruck vermieden werden, der Verein hätte etwas so Brillantes abgeliefert, dass die Gegenseite nicht ein Haar in der Suppe findet.

Also packe jetzt ich die angekündigten Beispiele an, die, wohlgemerkt, nur die Spitze des Eisbergs sind. Dem Diagnose-Funk-Beitrag entnommene Textpassagen sind am Zitatformat des Forums erkennbar. Und los geht's:

Einseitige ICNIRP-Studie behauptet [...]

Was für ein Unsinn, die Review (ohne Supplements) hat nachweislich 52 Seiten :-).

„Handynutzung erhöht Krebsrisiko nicht“, diese Meldung ging ab dem 6.9.2024 um die Welt – zur Genugtuung der Mobilfunkindustrie. [...]

Soso, "zur Genugtuung der Mobilfunkindustrie". Offenbar hat Diagnose-Funk beste Kontakte zur Mobilfunkindustrie, woher sonst wollte der Verein über den Gemütszustand einer ganzen Industrie Bescheid wissen? Die Genugtuung müsste sich, wäre sie wahr, ja irgendwie bemerkbar gemacht haben, z.B. auf dieselbe Weise, wie Diagnose-Funk Journalisten so gerne für sich gewinnen möchte, nämlich in Gestalt einer wichtigtuerischen Pressemitteilung. Also habe ich nachgeschaut, ob die beiden dicksten Brummer der Mobilfunkindustrie in Deutschland ihre Genugtuung über die Hirntumorreview der WHO auf diese Weise mitgeteilt haben. Mist, haben sie nicht! Wovon sich jeder bei der Telekom und bei Vodafone selbst überzeugen kann. Diagnose-Funk behauptet gern und viel. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, würde der Verein seine Behauptungen oder Meinungen nicht als Tatsachen in die Welt hinaus posaunen.

Die Meldung beruft sich auf eine Studie der ICNIRP, an der auch ein Mitarbeiter des deutschen Bundesamtes für Strahlenschutz beteiligt ist.

Deutsche Sprache, schwere Sprache. Woran ist der BfS-Mitarbeiter nun beteiligt: an der Studie, an Icnirp oder an beiden? Richtige Antwort: an beiden. Die Rede ist von Dan Baaken. Der junge Epidemiologe arbeitet laut LinkedIn seit Juli 2023 fürs BfS, zuvor war die Universitätsmedizin Mainz rd. sechs Jahre lang sein Arbeitgeber. Seine Mitwirkung an der Review galt redaktionellen Tätigkeiten (Schreiben, Korrekturlesen, Recherchen ...), der Projektverwaltung und der Datenkuratierung. Mit Icnirp hat er seit Juli 2024 zu tun, da hat er das wissenschaftliche Sekretariat von Gunde Ziegelberger übernommen. Die Review war zu diesem Zeitpunkt längst unter Dach und Fach. Wo bitte soll da ein Interessenkonflikt sein?

Die mühsam konstruierte Behauptung, die Review sei eine "Icnirp-Studie", hat Diagnose-Funk sich von Microwave News abgeschaut. Ja, einer der elf Review-Autoren (Ken Karipidis) ist tatsächlich Mitglied der amtierenden Icnirp-Kommission. Und drei oder vier andere Autoren hatten früher einmal mit Icnirp zu tun. Na und? Nur in den Echokammern der Anti-Mobilfunk-Szene wird Icnirp wie eine Mafia-Familie dargestellt. Draußen genießt der in München eingetragene Verein Icnirp hingegen einen ausgezeichneten Ruf. Leicht erkennbar daran, dass ungefähr 150 Länder die von Icnirp empfohlenen Grenzwerte für Mobiltelefone übernommen haben, sogar Russland. Kein einziges Land hat bisher die von Diagnose-Funk geforderten Grenzwerte übernommen. Anscheinend glaubt selbst Diagnose-Funk nicht so recht an das Stigma der "Icnirp-Studie", denn im Verlauf seines Beitrags geht der Autor dir nichts mir nichts Microwave News von der Stange und nennt die Review brav "Karipidis-Studie".

Doch diese Studie ist unwissenschaftlich [...].

Wie kommt eine fachliche Null dazu, so etwas zu behaupten? Um das herauszufinden habe ich den Beitrag nach dem Stichwort "unwissenschaftlich" durchsucht und zwei Treffer gelandet.

Treffer 1: [...] In einer scharfen Kritik verurteilt Dr. Oleg A. Grigoriev, Vorsitzender der russischen Straglenschutzkomission, die Unwissenschaftlichkeit der Karipidis-Studie. [...]

Ach so, ich dachte, jetzt kommt mal eine spektakuläre Eigenleistung der Stuttgarter auf den Tisch, und dann ziehen sie nur den Oleg aus Russland aus dem Hut. Und der Hut ist nicht mal von ihnen, sondern gehört Moskowitz (runterscrollen bis 11. September 2024). Von "unwissenschaftlich" ist dort wörtlich nicht die Rede. Oleg sind die Autoren der Review unbekannt, was deren Schuld nicht ist, und er mäkelt in seiner Meinungsbekundung an Belanglosigkeiten herum, wie eine von der WHO übergangene Diva, ohne auch nur einen einzigen Fakt beizubringen. Verblüffend wie genügsam die Stuttgarter sind, wenn ihre Quelle nur die "richtige" Meinung hat – und sei sie noch so substanzschwach. Nein, Oleg von der russischen "Straglenschutzkomission" als starken Belastungszeugen zu verwursten ist ausgesprochen armselig.

Treffer 2: [...] Die Aussage „kein Krebsrisiko“ ist auf Grund dieser Studie gar nicht möglich! Dreimal unwissenschaftlich! [...]

Dieser ziemlich kryptische Treffer, in dem es mutmaßlich nicht um die Review geht, sondern um eine Pressemeldung der Deutschen Presseagentur, ist noch substanzloser als Treffer 1 und mir fehlt die Muße, mich damit auseinandersetzen zu wollen.

Mehr als diese beiden seichten Treffer hat Diagnose-Funk nicht zu bieten, um den heftigen Vorwurf "unwissenschaftlich" mit Fakten zu belegen :no:.

[...] Die Rolle der ICNIRP als Legitimationsorgan für die Industrie dokumentierten die Journalisten von Investigate Europe und Microwave News. [...]

Ach du meine Güte, was für "glaubwürdige" Belastungszeugen! Die Stuttgarter pfeifen mMn auf dem letzten Loch. Microwave News kennt hier jeder. Das Redaktionsnetzwerk Investigate Europe sprang 2019 auf den 5G-Panikexpress auf und lieferte ab, was sie in der Anti-Mobilfunk-Szene an Gerüchten und Unterstellungen gegenüber Icnirp aufschnappten. Ein Musterbeispiel des Gigo-Prinzips: Garbage in, Garbage out. Diagnose-Funk aber war begeistert, seine eigenen verkorksten Ansichten über Icnirp – veredelt durch Journalisten – im Tagesspiegel lesen zu dürfen. Geht es darum, Icnirp "glaubwürdig" eins auszuwischen, verweist der Verein deshalb nicht auf seine eigenen Seiten, sondern bevorzugt auf den Gigo-Artikel des Tagesspiegel.

Schmerzgrenze erreicht ...

Mir reicht's jetzt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und bitte um Verständnis, dass ich mich mit dem Beitrag von Diagnose-Funk nicht weiter auseinandersetzen möchte. Das Pamphlet wurde augenscheinlich eiligst und schlampig zusammengeschustert, ohne einen nennenswerten Mehrwert in die Mobilfunkdebatte einzubringen. Die Debatte braucht Fakten, keine selektiv kolportierten Meinungsbekundungen von fachlichen Laien.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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