Sondermeldung "Weiße Zone Rhön": Fahrrad in Peking umgefallen (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 14.01.2024, 16:41 (vor 321 Tagen)

Eine umstürzende Roteiche in Berlin verletzt am 2. Januar 2024 drei Menschen schwer. Die "Elektrosensiblen"-Selbsthilfegruppe "Weiße Zone Rhön" bringt das Unglück in Zusammenhang mit Warnungen der Wanderärztin C. Waldmann-Selsam, die der festen Überzeugung ist, die HF-EMF-Einwirkung von Mobilfunkmasten würde Bäume zum Absterben bringen. Eine Bestandsaufnahme.

Mit einem Foto belegt die Selbsthilfegruppe, dass zwischen dem umgestürzten Baum und einem Mobilfunkstandort, der sich in rd. 165 Meter Entfernung in rd. 25 Meter Höhe auf dem Dach eines Hauses befindet, Sichtverbindung herrschte. Dies ist die einzige konkrete Begründung der Gruppe für ihren absurden Verdacht, der Mobilfunkstandort könnte infolge seiner EMF-Einwirkung die etwa 40 Jahre alte Roteiche zu Fall gebracht haben.

Äußerst dünne Beweislage

In Berlin gibt es schätzungsweise 26'000 Funkmasten und mit Sicherheit noch erheblich mehr Bäume. Warum ausgerechnet jetzt besagte Roteiche am Potsdamer Platz durch EMF-Einwirkung eines benachbarten Mobilfunkstandorts zu Fall gebracht worden sein sollte und nicht reihenweise Bäume in der Bundeshauptstadt im Umfeld von Mobilfunkstandorten zu Boden stürzen, darauf gibt die Gruppe keine Antwort. Der Baum stand weder in einer Hauptstrahlrichtung der Antennen, noch auf gleicher Höhe oder auffallend nah zu diesen. Den standortbezogenen horizontalen Sicherheitsabstand der fraglichen Sendeanlage beziffert die BNetzA auf rd. 31 Meter (vertikal 7,5 Meter), so dass angenommen werden darf, wenn Menschen sich risikolos außerhalb der genannten Abstände dauerhaft aufhalten dürfen, gilt dies auch für Roteichen.

Umgestürzte Roteiche und Mobilfunkanlage trennen etwa 165 Meter.
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Fotos: Google Earth

Medienmeldungen zufolge haben die Behörden in Berlin daher die fixe Idee der "Elektrosensiblen" in der Rhön keine Beachtung geschenkt, sondern Pilzbefall der Roteiche als mutmaßliche Unglücksursache ausgemacht.

Schrägstand, auffallend lichte Krone, teils dürre Zweige

Im Jahr 2017 hatte die Humanärztin Waldmann-Selsam bei einem ihrer Streifzüge die betroffene Roteiche in Berlin gesichtet und keinen Pilzbefall diagnostiziert, sondern "Schrägstand, auffallend lichte Krone, teils dürre Zweige". Eine Diagnose, die wahrscheinlich auch auf abertausende der etwa 90 Mrd. Bäume in Deutschland zutrifft, die weitab von jedem der rd. 71'000 Mobilfunkstandorte hierzulande unter dem Klimawandel und Schädlingen aller Art leiden.

Die von ihrer Idee besessene Ärztin sieht sich eigenen Angaben zufolge als "elektrosensibel". Unter überzeugten Mobilfunkgegnern fand sie bis vor einigen Jahren damit auch nennenswerten Zuspruch. Inzwischen ist ihre Gefolgschaft jedoch im Wesentlichen auf die Selbsthilfegruppe in der Rhön zusammengeschmolzen. Ein Grund dafür mögen die alarmierenden Briefe Waldmann-Selsams sein, wie der, den sie im Januar 2018 an den Regierenden Bürgermeister Berlins schrieb. Diese Briefe stellen die Glaubensstärke ihrer Anhänger regelmäßig auf eine harte Probe.

Viele Bäume um den Potsdamer Platz herum stehen nicht im Funkschatten.
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Elf Gegenargumente zur Baumhypothese der Wanderärztin

Gegen Waldmann-Selsams Hypothese von Baumschädigungen infolge HF-EMF-Einwirkung wurden hier im Forum bereits 2016 zehn Gegenargumente zusammengetragen, die heute noch Gültigkeit haben. Ein elftes Gegenargument wäre: Die Wanderärztin betrachtet Mobilfunkinfrastruktur, die sie bei ihren Streifzügen sieht, als in Stein gemeißelt. Sie sieht irgendwo einen darbenden Baum mit einem Mobilfunkstandort nah oder fern. Damit ist für sie der Ursache-Wirkung-Zusammenhang bereits hinreichend erwiesen. Doch dies ist hochgradig dilettantisch, denn Mobilfunkinfrastruktur ist ein dynamisches Kommen und Gehen von Standorten, das sie in ihren "Dokumentationen" völlig außer acht lässt. Sie hinterfragt nicht, wie lange ein von ihr ausgemachter Standort seine angeblich schädlichen Funkwellen schon gegen einen "kranken" Baum aussendet, dies können viele Jahre oder sogar Jahrzehnte sein, ebenso gut aber auch nur Wochen oder Monate. Um das Errichtungsdatum einer Sendeanlage herauszufinden, genügt nicht ein Blick in die EMF-Datenbank der BNetzA (dort ist nur die jüngste Änderung an einer Sendeanlage dokumentiert), sondern es bedarf für jeden Standort einer gezielten Anfrage an die Behörde. Mutmaßlich ist ihr dieser Aufwand die Mühe nicht wert, sie begnügt sich mit der Annahme, ein gesichteter Standort strahle schon lange vor sich hin. Bestenfalls belegt sie Zeiträume etwas konkreter, wenn sie ihre grünen Patienten mehrfach besucht. Mit wissenschaftlicher Sorgfalt hat das alles jedoch herzlich wenig zu tun, mit verbohrter Überzeugung hingegen viel.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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