2.2 Hensinger vs. Röösli: "Dauerexposition durch Beamforming" (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 14.08.2022, 17:44 (vor 684 Tagen) @ H. Lamarr

Eine weitere Neuerung von 5G sind adaptive Antennen. Das bedeutet, dass gezielt in die Richtung der Datennutzung gesendet wird. Je höher die Frequenz, desto gezielter kann die Senderichtung eingestellt werden. Bei den 5G-Frequenzen um 3,5 GHz kann der Sendewinkel auf etwa 10° reduziert werden, während konventionelle Antennen typischerweise einen Sendewinkel von 60 bis 120° besitzen. Mit diesem sogenannten „Beamforming“ kann zeitlich begrenzt die Exposition am Ort von starker Datennutzung ansteigen. Jedoch nimmt sie in allen anderen Gebieten ab.

Peter Hensinger erwidert auf die zitierte Textpassage:

Rööslis Formulierung zur 5G-Beamforming-Übertragung ist eine verharmlosende Halbwahrheit: „Mit diesem sogenannten ‚Beamforming‘ kann zeitlich begrenzt die Exposition am Ort von starker Datennutzung ansteigen“ (S. 534). Doch der Anstieg wird nicht nur zeitlich begrenzt sein, sondern das angestrebte ‚always-on‘ führt zum Gegenteil: einer steigenden Dauerexposition. Das Beamforming, ein hochenergetischer gebündelter Strahl, wird vorherrschend. Die Realsituation: In der Haupteinkaufsstraße nutzen zur gleichen Zeit viele Menschen ihr Smartphone, alle werden von Beams verfolgt, und die Beams werden keinen Bogen um nebenstehende Personen machen.

Mobilfunk ohne Beamforming

Bis zur Einführung von Beamforming wurde der Versorgungsbereich um einen Funkmasten in aller Regel mit drei Sektorantennen (Abstrahlwinkel horizontal 120°) annähernd kreisförmig mit drei Funkzellen abgedeckt. Die am Zellenrand erforderliche Empfangsfeldstärke für die störungsfrei Nutzung der Mobilfunkdienste bestimmte die Strahlungsleistung der Antennen. Bei großen Funkzellen war diese höher als bei kleinen Funkzellen. Gemäß Abstandsgesetz 1/r² verringerte sich die Immission in einer Funkzelle mit zunehmendem Abstand zu den Antennen homogen, im Nahbereich der Antennen verursachten unerwünschte "Nebenkeulen" eine inhomogene Feldverteilung mit mehreren Minima und Maxima. Entscheidend ist: Abgestrahlt wurde die Strahlungsleistung zeitlich und räumlich weitgehend konstant. Alle Personen, die sich in einer Funkzelle aufhielten wurden deshalb von einem Funkmasten dauerhaft befeldet, egal ob sie ein Mobiltelefon nutzten oder nicht. Am Zellenrand war diese Dauerbefeldung durch den Funkmasten schwächer als im Zellenzentrum. Umgekehrt war die Befeldung einer Person durch ein benutztes Mobiltelefon am Zellenrad höher als im Zellenzentrum, die Gründe dafür waren Zellatmung und die zur Überbrückung der größeren Distanz zum Funkmasten erforderliche höhere Sendeleistung des Mobiltelefons.

Bildlich ausgedrückt: Ohne Beamforming bedient ein Funkmast sein Versorgungsgebiet nach dem Gießkannenprinzip.

Mobilfunk mit Beamforming

Beamforming ändert die beschriebene Situation mit der Abkehr vom Gießkannenprinzip grundlegend. Eine "adaptive Antenne" bedient ihre Funkzelle jetzt nicht mit einem einzigen breitflächigen Funkstrahl für alle Teilnehmer in der Funkzelle, sondern mit mehreren (z.B. acht) schmalen Funkstrahlen (Beams), die sich elektrisch verzögerungsfrei und gezielt auf aktive Teilnehmer in der Funkzelle ausrichten lassen. Ist ein aktiver Teilnehmer mobil (z.B. Fußgänger) folgt ihm ein Beam auf seinem Weg durch die Funkzelle. Bewegt sich der Teilnehmer zum Zellenrand, hebt der Funkmast die Strahlungsleistung des Beams (in den Versorgungsmomenten des Teilnehmers) an, kommt der Teilnehmer dem Funkmast näher, reduziert dieser die Strahlungsleistung. Um wesentlich mehr als z.B. nur acht Teilnehmer bedienen zu können, werden die Beams im Zeitmultiplexverfahren betrieben. Ein Funkmast versorgt Teilnehmer dann nicht kontinuierlich mit Daten, sondern nur in den "Zeitschlitzen" (Versorgungsmomenten), die er einem Teilnehmer zugewiesen hat.

Bildlich ausgedrückt: Mit Beamforming bedient ein Funkmast sein Versorgungsgebiet gezielt dort, wo Teilnehmer Mobilfunkdienste anfordern.

Wer sich den geschilderten Sachverhalt durch den Kopf gehen lässt, kommt wie Röösli et al. zwangsläufig zu der Erkenntnis: Dort, wo in einer Funkzelle mit Beamforming Mobilfunkdienste angefordert werden, ist die Immission höher als an Stellen, wo dies nicht der Fall ist. Unbeteiligte Passanten oder Anwohner werden daher mit Beamforming weniger stark befeldet als in herkömmlichen Funkzellen ohne Beamforming. Damit geht ein alter Wunsch überzeugter Mobilfunkgegner in Erfüllung.

Die Irrtümer des Herausforderers

Wie schon in 2.1 gezeigt ist Hensingers Darstellung, Beamforming führe zu einer steigenden Dauerexposition nicht mehr und nicht weniger als eine unbelegte persönliche Vermutung des Herausforderers. Abwegig ist insbesondere der angsteinflößende Begriff "Dauerexposition", denn wie oben gezeigt, ist eine Dauerexposition typisch für die älteren Funktechniken GSM, UMTS und LTE gewesen, für Beamforming ist hingegen typisch, dass es gerade keine Dauerexposition bewirkt, sondern die Exposition zeitlich und räumlich so dosiert, dass die unnötige Bereitstellung von Strahlungsleistung im Versorgungsbereich minimiert wird. Was sich übrigens auch positiv auf den Strombedarf von adaptiven Antennen auswirkt.

Von der Lust des Herausforderers an dramatischen Formulierungen zeugt auch sein Satz: "Beamforming, ein hochenergetischer gebündelter Strahl, wird vorherrschend." Das klingt nach den todbringenden Laserschwertern in Krieg der Sterne. Hochenergetische Strahlen werden adaptive Antennen jedoch nie aussenden, dazu fehlt der schneidende Bedarf, die Bündelung auf Öffnungswinkel < 10° wird mit steigenden Trägerfrequenzen und mit adaptiven Antennen, die auf gleicher Fläche mehr Dipole unterbringen als heute, jedoch keine Fiktion bleiben.

Noch fehlen schlagende Beweise

Dem diffusen Bedrohungsszenario, das Hensinger dem Beamforming andichtet, hätte ich gerne nicht nur Überlegungen vom grünen Tisch entgegen gestellt, sondern konkrete aussagekräftige Ergebnisse von Messkampagnen. Denn die oben angestellten Überlegungen bilden das Immissionsgeschehen um adaptive 5G-Antennen nicht vollständig ab. So fehlt z.B. die Betrachtung der Signalisierung (SSB), die bei 5G zwar keinen dominanten Beitrag zur Immission liefert, bei einer realistischen Betrachtung aber nicht unterschlagen werden darf. Interessant wäre auch eine detaillierte Betrachtung des Zeitmultiplexverfahrens, denn dieses führt dazu, dass alle Teilnehmer in einer Funkzelle von einem Funkmasten nur häppchenweise bedient werden, wobei die strahlungsfreien Lücken im Datenfluss so klein sind, dass die Teilnehmer sie nicht bemerken. Der Zeitmultiplex bewirkt zudem selbst in einer randvollen Funkzelle, dass, abhängig von der Anzahl der Beams, nur ganz wenige Teilnehmer gleichzeitig direkt befeldet werden.

Diese und andere Einflussfaktoren auf die Exposition lassen sich messtechnisch glaubhafter und zuverlässiger erfassen als durch verwinkelte theoretische Überlegungen. Doch noch ist Beamforming mit adaptiven Antennen nicht weit genug verbreitet, als dass Messkampagnen ein wirklichkeitsgetreues Abbild der Exposition liefern könnten, wie es bei Vollausstattung von Ballungszentren mit der neuen Technik gegeben ist. Zudem genügt es nicht, allein die Exposition durch die adaptiven Antennen von Funkmasten zu betrachten, weil dies den zunehmenden Beitrag der Mobiltelefone an der Gesamtexposition völlig außer Acht lässt.

Bisherige 5G-Messkampagnen (Beispiel) zeigen auch für Beamforming nur einen unauffälligen Anstieg der Exposition durch die Funkmasten. Erklärt wird dieses Ergebnis mit der gegenwärtig noch geringen Nutzung adaptiver Antennen durch 5G-taugliche Smartphones im 3,6-GHz-Band. Aus technischen Gründen ist Beamforming Trägerfrequenzen ab etwa 3,6 GHz vorbehalten. Ob Netzbetreiber hierzulande im 3,6-GHz-Band ausschließlich Beamforming betreiben oder teilweise darauf verzichten ist mir nicht bekannt, auch nicht, ob Beamforming an 5G-Smartphones besondere Anforderungen stellt, die möglicherweise nicht jedes Modell erfüllt.

Fazit

Das von Hensinger belegfrei vorgetragene populistisch überhöhte Bedrohungsszenario durch Beamforming hält einfachen theoretischen Überlegungen nicht stand. Ob der Herausforderer auch von Messkampagnen widerlegt wird, ist gegenwärtig noch offen.

Im Bestreben organisierter Mobilfunkgegner, die Bevölkerung nach Einführung einer neuen Mobilfunktechnik mit Meldungen über eine zunehmende Exposition zu beunruhigen, steckt ohnehin ein grundsätzlicher Denkfehler. Diesen begehen alle, die gebannt allein auf die Exposition starren und das mit Mobilfunk übertragene Datenvolumen unbeachtet lassen. Eine Analogie mag den Einwand verdeutlichen. Betrachten wir dazu fiktiv den Wasserverbrauch einer Großstadt über einen längeren Zeitraum hinweg. Wer dann beklagt, die verschwenderischen Bewohner der Stadt würden zunehmend mehr Wasser verbrauchen, ohne die Bevölkerungsentwicklung der Stadt berücksichtigt zu haben, dem darf getrost eine "Milchmädchenrechnung" vorgehalten werden.

Eine kompetente faire Langzeitbetrachtung der Expositionsentwicklung von Funkfeldern kommt um die Einbeziehung der Datenvolumenentwicklung im Mobilfunk nicht umhin. Wie das sachkundig zu machen wäre will mir spontan zwar nicht einfallen, in der Literatur lässt sich dazu aber wahrscheinlich etwas aufstöbern. Den Herausforderer haben solche Fragen nicht beschäftigt. Auf den sieben Seiten von Hensingers Artikel konnte ich das Wort Datenvolumen oder dessen unsinniges Synonym Datenverbrauch jedenfalls nicht finden. Das finde ich beunruhigend.

Wertung: 0 Punkt für den Herausforderer

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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